Geldanlage:Spiel der Narren

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Staatsanleihen galten bei Anlegern lange als grundsolide. Doch seit Wochen steigen ihre Kurse rasant. Experten warnen: Jetzt haben es Zocker auf die Langweilerpapiere abgesehen.

Von Victor Gojdka, München

An den Finanzmärkten spielen in diesen Tagen ausgerechnet hundertjährige Österreicher eine große Rolle. Genau 1006 Menschen sind in Österreich derzeit mindestens hundert Jahre alt. Und viele fragen sich, was diese hochbetagten Menschen den jungen Finanzprofis sagen sollen. Ob die Finanzer gar auf eine besondere Weisheit in diesem biblischen Alter hoffen?

Doch "hundertjährige Österreicher", damit meinen die Finanzexperten keine Menschen - sondern spezielle Staatsanleihen des Landes. Diese "Methusalem-Anleihen" laufen nicht wie sonst üblich ein paar Jahre lang, sondern eben für diese gefühlte Ewigkeit. Erst im nächsten Jahrhundert muss der Staat sie zurückzahlen, genauer im Jahre 2117. In Worten: Zweitausend-einhundert-siebzehn.

Diese hundertjährigen Anleihen gehören aktuell zu den heißesten Finanzpapieren, auf die es Profianleger weltweit abgesehen haben. Anleihefonds aus Deutschland, Österreich, den USA investieren aktuell Millionensummen in die Titel. Eine Euphorie, die nicht nur die österreichischen Papiere trifft, sondern viele Anleihen weltweit. Anleger haben in den vergangenen Wochen so viel Geld in Anleihefonds geschoben wie nie zuvor in kurzer Zeit, zeigen Zahlen der Bank of America.

Der Fall Österreich spiegelt dabei anekdotisch, wie sich der Anleihemarkt in den vergangenen Wochen verändert hat. Einst galten Staatsanleihen als solide Titel für Sparer, die keine Lust hatten auf den wilden Aktienmarkt. Doch das ist passé, über den Sommer ist der Anleihemarkt unbemerkt von vielen zu einer der vielleicht größten Zockerbuden geworden. "Wo ist heute die Blase?", fragt Investmentlegende Scott Minerd in einem Denkpapier. "Sie dürfte sich am Anleihemarkt bilden." Was nach einer Fachdebatte klingt, kann allerdings auch Privatanleger mit Lebensversicherungen oder Anleihefonds treffen.

Also Millionen Deutsche.

Wer verstehen will, warum viele Finanzprofis derzeit Tag um Tag Riesensummen in den als langweilig verpönten Anleihemarkt schieben, muss in zwei Schritten eintauchen in die Mechanik des Marktes.

Erstens: Anleihen heißen festverzinsliche Papiere, weil sie regelmäßig eine feste Summe abwerfen. Am Beispiel der hundertjährigen österreichischen Staatsanleihe heißt das: Als der Staat die Anleihe im Herbst 2017 ausgegeben hat, haben Anleger ihm pro Papier etwa hundert Euro geliehen. Dafür versprach der Staat im Gegenzug: Jedes Jahr zahlt er den Anlegern einen festen Zins auf diesen Wert, nämlich 2,1 Prozent. Mit diesem Zinskupon von 2,10 Euro im Jahr können die Anleger rechnen, jedes Jahr, bis zum Ende der hundert Jahre. Am Ende will der Staat ihnen dann natürlich auch die hundert Euro zurückzahlen.

Zweitens: Seitdem der Staat die Anleihe ausgegeben hat, rechnen die Investoren mit immer weiter absackenden Zinsen. Unter anderem, weil die Notenbanken mit immer tieferen Leitzinsen die Weltkonjunktur wieder anschieben wollen. Der Nebeneffekt: Ein Zins von 2,1 Prozent wirkt für Investoren heute geradezu bombastisch, viele wollen die Anleihen kaufen. An der Börse müssen sie dann allerdings mehr für die Papiere zahlen. Für die 100-jährige Anleihe mussten sie zu Beginn des Jahres noch 116 Euro hinlegen. Heute sind schon 208 Euro fällig.

Der Dax ist dieses Jahr 13 Prozent geklettert. Doch viele Anleihen stiegen noch viel höher

Genau auf diesen Kursanstieg setzen Investmentprofis nun, und er zeigt sich bei vielen Anleihen dieses Jahr. Während der deutsche Aktienindex Dax seit Jahresbeginn um 13 Prozent gestiegen ist, hat der Kurs 30-jähriger Bundesanleihen gar um 60 Prozent zugelegt. Der Kurs der hundertjährigen österreichischen "Methusalem-Anleihe" ist seit Jahresbeginn gar um 80 Prozent nach oben geschnellt. "Die Anleger sind geradezu euphorisch", sagt Manfred Hübner, der beim Analysehaus Sentix die Stimmung der Anleger untersucht.

Das hängt auch mit der Tektonik des weltweiten Finanzmarkts zusammen. Wenn in irgendeinem Winkel des Finanzsystems plötzlich besonders viel Geld zu machen ist, kriegen clevere Algorithmen das in Sekundenschnelle mit. Und auch aktuell haben sich viele dieser schlauen Computerprogramme am Anleihemarkt einfach an den Trend gehängt, konstatieren Experten der US-Investmentbank JP Morgan. Auch Fondsmanager aus Fleisch und Blut geraten immer stärker unter Rechtfertigungsdruck, wenn sie die Anleihen nicht kaufen. Denn ihre Konkurrenten haben in den vergangenen Monaten gute Gewinne mit steigenden Anleihekursen gemacht. Am Ende kaufen dann fast alle, ob mit Überzeugung - oder ohne. Und vielen Versicherungen, Pensionskassen oder Versorgungswerken bleibt rechtlich kaum anderes übrig, als Anleihen zu kaufen.

Manche Experten fürchten sich inzwischen vor dieser Kursjagd am Anleihemarkt, viele Anleihen seien inzwischen extrem teuer geworden. Warum die Investoren trotzdem weiter kaufen? Einige Experten glauben an die "Greater-Fool-Theorie". Zu Deutsch: die Strategie des größeren Narren. "Die Anleger glauben schlicht, ihre Anleihen zu noch höheren Preisen an einen anderen Narren weiterverkaufen zu können", sagt Manfred Hübner. Bis die Papiere irgendwann so teuer sind, dass selbst Narren nicht mehr zugreifen - und die Preise fallen.

Manche Anleger kaufen allerdings aus Überzeugung. Sie glauben, dass es gute Gründe für steigende Kurse gibt. Denn siemeinen, dass die Zinsen künftig sinken, noch weiter runter. Der Effekt: Alle wollen dann die "alten", noch besser verzinsten Anleihen haben. Und deren Kurse steigen. Die Europäische Zentralbank hat bereits angedeutet, dass sie die Zinsen im September weiter senken könnte. Auch andere Zentralbanken wollen die Zinsen weiter in den negativen Bereich drücken. "Die Zentralbanken befinden sich in einem Kampf um immer tiefere Leitzinsen", sagt Erick Muller vom Anleihespezialisten Muzinich. Dass bald die Inflation hochschießt und die Zentralbanken deswegen bei den Zinsen umsteuern? Glaubt er nicht. "Es gibt sehr wenige Zeichen, dass die Inflation anzieht", sagt Muller. Wer so denkt, greift bei Anleihen derzeit zu. 9000 Kilometer weiter westlich arbeitet Fondsmanager Michael Hasenstab bei der Gesellschaft Franklin Templeton in Kalifornien, er gilt als Größe am Anleihemarkt. Auch, weil er oft eine völlig konträre Meinung vertritt. Hasenstab ist ein notorischer Querdenker. Er wiederum glaubt, dass die Zinsen nicht dauerhaft sinken dürften. Sondern irgendwann wieder steigen. Warum? Weil die Inflation bald wieder anziehen könnte und die Zentralbanken zwingen würde, die Zinsen hochzuschrauben. "Handelszölle führen doch zu höheren Preisen", sagte Hasenstab kürzlich auf einem Fondsforum. Doch wenn die Zinsen wieder steigen, werden die alten Anleihen mit niedrigerem Zins auf einmal uninteressant - und ihre Kurse fallen. Bei neuen Anleihen gibt es dann ja schließlich mehr Zins zu holen. Hasenstab wettet deswegen gegen die aktuellen Anleihen.

Hat er Recht, könnte das auch normale Privatanleger treffen. Viele reine Anleihefonds und Mischfonds weisen derzeit tolle Renditen aus. Sollten sich die Experten mit ihrer Hoffnung auf steigende Anleihekurse allerdings verspekulieren, dann könnten auch Privatanleger merken: Jemand hat sie zum Narren gehalten.

© SZ vom 31.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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