Flüchtlinge auf Arbeitssuche:Ein langer Marsch

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Erst 40000 Flüchtlinge haben in Deutschland einen Arbeitsplatz gefunden. Es fehlt die Qualifikation. In der Politik wächst die Nervosität.

Von Varinia Bernau,Karl-Heinz Büschemann, Caspar Busse und Uwe Ritzer, München

Ist wenigstens auf die Post Verlass? Kann der ehemalige Staatskonzern, der für seine Brief- oder Paketzentren jede Menge Arbeitskräfte gebrauchen kann, dazu beitragen, dass die vielen Flüchtlinge einen Arbeitsplatz finden? Konzernchef Frank Appel holt aus zur ganz großen Beschwörung: "Die Flüchtlingshilfe, die heute geleistet wird, ist kein Kostenfaktor, sondern eine langfristige Investition in die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland." Also kündigt Appel in seinem Konzern 1000 Praktikumsplätze für junge Flüchtlinge an. "Spätere Ausbildung nicht ausgeschlossen." Doch Appels Angebot ist noch Zukunftsmusik. Bisher hat das Bonner Unternehmen mit seinen fast 500 000 Mitarbeitern erst 50 Flüchtlinge eingestellt.

Ein Jahr nach dem Beginn der jüngsten Einwanderungswelle und nach dem Wir-schaffen-das-Satz von Angela Merkel breitet sich in Berlin Ungeduld aus. Die Kanzlerin selbst wird nervös, angesichts von 480 000 Menschen, die allein in diesem Jahr einen Asylantrag gestellt haben. Aus ihrer Sicht tun die großen Konzerne zu wenig, um Flüchtlingen einen Arbeitsplatz zu geben. Sie hat die Chefs der großen Konzerne am 14. September ins Kanzleramt gebeten. Und SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann erwartet, dass die Dax-Chefs bei dem Treffen mit der Kanzlerin "konkrete Zusagen machen". Deren Versprechungen müssten "auch Taten folgen."

Die Chefs werden der Kanzlerin bei dem Treffen in einem Monat aber klarmachen, dass die Integration der Zuwanderer so schnell nicht geht, wie es sich viele wünschen. "Das dauert", heißt es beim Essener Chemieunternehmen Evonik. Noch müssen Evonik-Mitarbeiter konkrete Lebenshilfe leisten und Flüchtlinge zu Behörden begleiten oder ihnen beim Ausfüllen von Formularen helfen. "Bis die Migranten eine Ausbildung gemacht haben und übernommen werden können, dauert es noch Jahre", sagt ein Evonik-Manager.

Viele Flüchtlinge wollen arbeiten, Firmen würden sie gern einstellen. Doch es fehlt oft die Qualifizierung. (Foto: Patrick Pleul/dpa)

Ein Viertel der Zuwanderer kann ein Abitur oder eine Hochschulreife nachweisen

Ähnlich sieht das Janina Kugel, Vorstandsmitglied für Personal bei Siemens. Das Münchner Technologieunternehmen hat bisher 66 junge Zuwanderer in Förderklassen aufgenommen, die nötig sind, um die Neulinge auf eine Berufsausbildung vorzubereiten. Erst nachdem sie Deutsch und andere Grundfertigkeiten gelernt hätten, kann es losgehen mit der Werkbank oder dem Computer. "Wir hoffen, dass wir die Zahl im nächsten Jahr aufstocken können", sagt Kugel vorsichtig.

Bisher haben nach den Erkenntnissen des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung erst 40 000 Menschen aus der jüngsten Flüchtlingswelle in Deutschland einen Arbeitsplatz gefunden. Die große Zahl der Neuankömmlinge ist auf dem Arbeitsmarkt noch gar nicht angekommen. Sie sind zum großen Teil gar nicht in der Lage, einen Arbeitsplatz anzutreten, und stecken noch in Vorbereitungskursen. Für die meisten Asylbewerber gilt, dass ihre Qualifikation für den deutschen Arbeitsmarkt nicht reicht. "Viele Flüchtlinge verfügen über keinen hierzulande verwertbaren beruflichen Abschluss", sagt eine Studie des Instituts. Die deutschen Sprachkenntnisse seien "mindestens zu Beginn gering".

Die Bundesagentur für Arbeit weiß, dass von den Migranten 26 Prozent nicht einmal einen Hauptschulabschluss haben. Drei Viertel haben keine Berufsausbildung. Immerhin aber können 26 Prozent das Abitur oder eine Hochschulreife nachweisen, und neun Prozent haben eine akademische Ausbildung. Mehr als die Hälfte, 58 Prozent der Asylbewerber, sind wegen mangelnder Qualifikation nur für Helfertätigkeiten geeignet. "Unser Fachkräfteproblem werden die Flüchtlinge nicht von einem Tag auf den anderen lösen", sagt deshalb Siemens-Managerin Kugel. Bei manchen seien die Hoffnungen am Anfang doch etwas zu groß gewesen, stellt die Managerin nüchtern fest.

An der Willkomenskultur fehlt es in diesem Fall nicht. An der Qualifikation der arbeitssuchenden Flüchtlinge in den meisten Fällen leider schon. (Foto: Sean Gallup/Getty Images)

Für die Bildung wären zusätzlich 3,5 Milliarden Euro pro Jahr notwendig

Soll die Integration der Zuwanderer gelingen, müssen sich Staat und Unternehmen darauf einstellen, die Neudeutschen erst einmal arbeitsmarktreif zu machen. "Das wird viele Milliarden kosten", sagt Enzo Weber, Professor am Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung in Nürnberg, der SZ ( siehe Interview ). Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) wird präziser und sagt, dass für Flüchtlinge jährlich rund 3,5 Milliarden Euro zusätzlich an Bildungsausgaben erforderlich sind.

Helen O'Meara ist beim Sportartikelhersteller Adidas zuständig für den Umgang mit Flüchtlingen. Das Herzogenauracher Unternehmen beteiligt sich an der Aktion "Wir zusammen", der Integrationsinitiative von mehreren Dutzend deutschen Konzernen. Ähnlich wie bei Evonik bekommen auch Adidas-Mitarbeiter, die sich ehrenamtlich für Flüchtlinge engagieren, bezahlten Sonderurlaub. 14 Flüchtlinge arbeiteten bereits als Praktikanten in der Adidas-Zentrale. Bis Jahresende sollen es 30 werden; so viele will man auch im kommenden Jahr durchschleusen.

"Wir sehen das Thema als Marathon und nicht als Sprint", sagt Peter Jeckel vom Adidas-Personalstab. Dass sich das Engagement lohne, stehe aber außer Zweifel. "Wir erleben viel Motivation bei den Flüchtlingen, machen aber auch die Erfahrung, dass es intensive Begleitung braucht", sagt Jeckel. Erstaunlicherweise seien bei vielen Flüchtlingen die Deutschkenntnisse aufgrund der angebotenen Sprachkurse besser als ihr Englisch. Hauptsächlich waren es bislang Schüler zwischen 15 und 21 Jahren, die Praktika bei Adidas absolvieren konnten. Nun soll das Angebot auch verstärkt Erwachsene erreichen.

Ein Praktikum, etwa bei den Berliner Wasserwerken, kann den Einstieg erleichtern. (Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Michael Wichtrup kümmert sich bei der Handwerkskammer in Münster um Flüchtlinge, die ohne Qualifikation nach Deutschland kommen. Er kümmert sich auch um Ausbildungsbetriebe, die Mitarbeiter suchen. Den einen hilft er, an einen sicheren Aufenthaltstitel zu kommen; den anderen erklärt er, welche Nachhilfe für die Neulinge nötig ist.

Wichtrup leistet schon seit Jahren eine Arbeit, die andere noch vor sich haben. Er sorgt dafür, dass die Arbeitsuchenden verstehen, was in einem deutschen Betrieb gebraucht wird. Die Betriebe lernen, wo sie sich den Neulingen nähern müssen, um deren Fähigkeiten herauszufinden.

Dabei hilft ihm ein Team von Rentnern, die selbst lange Zeit im Handwerk waren und ehrenamtlich ihre Erfahrungen und Kontakte einbringen. Weil die Initiative schon seit acht Jahren läuft, weiß die Handwerkskammer in Münster inzwischen mehr über das gegenseitige Aufeinanderzubewegen. Das Miteinander hat sich eingespielt. Hier klappt, was anderswo noch nicht läuft. "Unsere Netzwerke funktionieren", sagt Wichtrup. "Inzwischen haben sich auch unter den Menschen, die zu uns in die Region kommen, die Erfolgsgeschichten rumgesprochen." Deshalb kommen inzwischen deutlich motiviertere Bewerber. Dies wiederum motiviert die Unternehmen. Jeden zweiten Bewerber konnte Wichtrup in diesem Jahr in einen Ausbildungsplatz oder eine Qualifizierungsmaßnahme vermitteln. Eine Albanerin hat gerade ihren Vertrag unterschrieben, um eine Lehre als Bäckereifachverkäuferin zu beginnen; zwei Männer aus Aserbaidschan und Nigeria machen eine Ausbildung zum Maler, ein Syrer eine zum Betonbauer, und jemand aus Kosovo wird Glaser.

© SZ vom 18.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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