Finnland:Weiterleben ohne Nokia

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Digitalisierte Schulen, niedrigere Lohnkosten und ein Grundeinkommen für Arbeitslose: Finnland sucht nach Wegen zu neuer Stärke, tut sich aber schwer. Das liegt auch am verblichenen Glanz des Handy-Konzerns.

Von Silke Bigalke, Helsinki

Die unvermeidbaren Gummistiefel stehen auch da, gelb, Marke "Nokian Footwear", auf dem Flur des Ministeriums. Der Handelsminister hat dort finnische Produkte ausgestellt. Über den Stiefeln hängt Marimekko-Meterware, bunt bedruckter Stoff. Doch ohne Nokia kann Kai Mykkänen nicht erklären, wo Finnland heute steht. Beziehungsweise, wo es hin möchte: "Was wir besser machen müssen ist Finnland breiter zu positionieren als bloß als Land von Nokia und der Holzindustrie", sagt der Minister.

Nokia hat Finnland geprägt, nicht wegen der Stiefel, deren Hersteller längst nicht mehr zum Konzern gehört. Nokia war bis 2011 weltgrößter Handyhersteller, ein Riesenunternehmen in einem kleinen Land. Ein Prozent aller Arbeitsplätze, fast vier Prozent der Wirtschaftsleistung, ein Drittel aller Forschungsausgaben, das war Nokia einst für die Finnen. Heute ist der frühere Gummistiefel- und Handy-Hersteller ein anderes Unternehmen. Und Finnland ein anderes Land.

"Positiv ist", sagt der Minister vorsichtig, "dass wir zum ersten Mal seit fünf Jahren einen klaren Sprung sehen in den Investitionen". Fünf Jahre Stillstand, kein Wachstum und gleichbleibend hohe Arbeitslosigkeit. Doch jetzt, endlich, hätten die Unternehmen wieder Aufträge in ihren Büchern. Damit es mehr werden, möchte die Regierung Arbeit in Finnland billiger machen. Im Sommer 2016 hat sie bereits Lohnkürzungen und Mehrarbeit durchgesetzt. Sie reagiert damit auch auf eine Altlast aus Nokias Glanzzeiten, in denen der Konzern mehr Talente angestellt hat als der finnische Markt hergab. "Das war hoch bewertete Arbeit und hat eine Atmosphäre geschaffen von: Ja, wir können die Löhne jedes Jahr stark erhöhen." Dann kamen 2007 das iPhone, 2008 die Finanzkrise und 2009 begann Nokias Niedergang. Die Finnen hätten fünf Jahre gebraucht, um zu begreifen, dass sie kürzer treten müssen.

Ein weiterer wichtiger Grund für die Erholung ist Deutschland. Die finnischen Exporte allein nach Baden-Württemberg seien im ersten Halbjahr 2016 bereits genauso viel wert gewesen wie die finnischen Lieferungen für ganz Russland, sagt Kai Mykkänen. Das Autowerk im westfinnischen Uusikaupunki liefert Daimler zu, die Stadt sei in einem "Wachstums-Schock". Die deutsche Meyer-Werft, die 2014 die Werft in Turku übernommen hat, weist "volle Auftragsbücher bis 2025" aus, was vor fünf Jahren niemand für möglich gehalten hätte. Und Bayer hat seinen nordischen Hauptsitz in Espoo, eine Ausnahme. Meistens wählen Pharmakonzerne Schweden oder Dänemark.

Ein bisschen zu schüchtern und nicht so gut im Selbstvermarkten, so sehen sich die Finnen selber

Ein grundsätzliches Problem: Finnische Unternehmen sind oft ziemlich klein, sagt der Minister, "nicht so clever im Marketing" und dazu "ein wenig schüchtern". Die Finnen glaubten, dass andere Länder sowieso nicht interessiert seien an ihren Lösungen und blieben dann lieber unter sich. "Das versuchen wir zu ändern".

Kaum ein Konzern hat sein Heimatland so geprägt wie Nokia Finnland. (Foto: Roni Rekomaa/AFP)

Für Nokia gilt das nicht. Nokia ist immer noch ein globales Unternehmen, hat in Espoo, 20 Kilometer vom Ministerium entfernt, seinen Hauptsitz. Und sein "Executi-ve Experience Center", wo es auf einem Wolkenteppich und mit großen Monitoren sichtbar machen will, wie die Zukunft aussehen könnte. Die Virtual-Reality-Kamera Ozo steht dort, eine graue Kugel mit acht Kameralinsen, viel zu teuer für Hobbyfilmer. Daneben kann man mit einer Brille für virtuelle Realität in Echtzeit sehen, was die Kamera aufzeichnet. Einen Raum weiter demonstrieren zwei Roboterarme, wie schnell bald Daten übertragen werden können. Die Arme halten eine Stange, darauf balancieren sie einen Ball, eine Kamera filmt sie dabei.

Die Aufgabe: Sie sollen den Ball auf einem bestimmten Punkt der Stange zum Stehen bringen. Arme und Kamera kommunizieren über 5G, so heißt die Technik für die neuen Mobilfunknetze, die noch mehr Daten noch schneller übertragen können. Im Handumdrehen ist der Ball ausbalanciert. Das Experiment gibt einen Eindruck davon, wie sich Fabriken durch die neuen Netze verändern könnten, die 2020 kommen sollen. Nokia zeigt weitere Beispiele: Schulunterricht mit der Virtual-Reality-Brille, Handy-Simultanübersetzungen während man telefoniert, interaktive Bushaltestellen. Nur Handys gibt es im Demo-Zentrum keine.

Nokias Hauptgeschäft ist es, Netzwerke zu bauen und auszustatten. Derzeit ist das ein schwieriges Geschäft, auch weil alle auf das neue 5G warten und die Mobilfunkkonzerne weniger in die alten Netze investieren. Alle warten auf die neue Technologie, die so Vieles verändern wird - womöglich auch finnische Jobs in der deutschen Werft in Turku. Es ist der nächste Umbruch.

Finnland ist ein vergleichsweise junger Staat, bald hundert Jahre alt, Nokia kommt auf mehr als 150 Jahre. Beide haben sich in dieser Zeit mehrfach neu erfinden müssen. Als Esko Aho in den Fünfzigerjahren geboren wurde, war Finnland noch hauptsächlich landwirtschaftlich geprägt. Aho trat in die Zentrumspartei an, die vor allem die ländliche Bevölkerung vertrat, wurde in den Neunzigerjahren Premierminister und später Nokia-Vizepräsident. Er berät den Konzern bis heute. Nun sitzt Esko Aho in einem Helsinkier Restaurant unter einer alten Weltkarte und spricht davon, dass Finnland mal wieder ein neues Gesellschaftsmodell brauche.

Esko Aho kam Anfang 2009 in den Vorstand von Nokia. In den Jahren 2011 bis 2013 strich der Konzern etwa 18 000 Stellen. Die meisten Betroffenen hätten neue Jobs gehabt, bevor sie das Unternehmen verließen, sagt Aho. Nokia hatte ihnen mit einem Brücken-Programm geholfen, sie beraten, geschult, und ihre Startups gefördert. So ein Programm bräuchte man nun für das ganze Land, das ist seine Idee.

"Eines der fundamentalen Dinge, die wir verstehen müssen ist, dass wir eine große Zahl Jobs verlieren werden", sagt er. In den Fabriken, im Finanzsektor, im öffentlichen Sektor, überall wo weniger Menschen gebraucht werden, weil Computer und Roboter übernehmen. Die Leute sollten wechseln, bevor sie arbeitslos werden, sagt er - zum Beispiel in den Tourismus, in die Holzwirtschaft, die in Finnland auf Biotechnik umstellt, oder in den Gesundheitssektor.

Die Hauptaufgabe sei nun, ein neues Gesellschaftsmodell zu schaffen, das den Menschen aus der industriellen in die digitale Zeit hilft. Ihnen Wohlstand zu garantieren, das ginge einfach nicht mehr. "Die Art von Job-Sicherheit, die wir bisher schaffen konnten, wird in Zukunft nicht mehr funktionieren." Politiker sollten lieber Konzepte entwerfen, um mit der neuen Technologie umzugehen: Wenn die Digitalisierung zum Beispiel verändert, wie Menschen reisen oder wie Schüler lernen, braucht man neue Schul- und neue Verkehrskonzepte. Kleine Staaten wie Finnland seien dafür "fantastische Testfelder", sagt Esko Aho.

Ein Experiment hat bereits international für Aufmerksamkeit gesorgt: Das Grundeinkommensexperiment. Vielen Menschen, die früher vielleicht in der Produktion gearbeitet hätten, bleiben heute nur noch Gelegenheitsjobs, für die sie aber ihre Sozialhilfe nicht aufgeben wollen. "Es ist verständlich, dass sie sich quasi nicht leisten können, diese Jobs anzunehmen", sagt Handelsminister Kai Mykkänen. Etwa 242 000 Finnen sind arbeitslos, 2000 von ihnen bekommen nun zwei Jahre lang ein Basiseinkommen, das auch dann weitergezahlt wird, wenn sie in dieser Zeit einen Job annehmen. Mehr Experimente könnten folgen, im nächsten Schritt soll es etwa ein digitales Einkommensregister geben. Wenn jemand dann ein Jobangebot erhält, kann er gleich auf dem Handy nachrechnen, ob sich das nach Steuern und Sozialleistungen für ihn lohnt.

Das ist nicht gerade die Revolution, an die Esko Aho gedacht hatte, das Grundeinkommen gehört für ihn zum überholten Wohlfahrtsstaat-Modell. Wenn das Umdenken selbst im kleinen, wandelbaren Finnland so schwer fällt, ist es dann überhaupt realistisch? Der frühere Premier bleibt optimistisch, auch das habe er von Nokia gelernt: "Im Sommer 2011 haben viele gesagt, dass Nokia nun zerstört würde." Aber Nokia ist immer noch da.

© SZ vom 23.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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