Europa:Grün eingefärbt

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Ein Europa für Solarpaneele und Schafe: Die EU-Kommission will, dass die 27 Staaten nachhaltiger werden. (Foto: Harald Tittel/dpa)

Welche Wirtschaftspolitik die EU-Kommission den Mitgliedsländern empfiehlt.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Kaum ein Projekt liegt Ursula von der Leyen mehr am Herzen als ihr "European Green Deal", durch den Europa bis zum Jahr 2050 der erste klimaneutrale Kontinent werden soll. In dreißig Jahren, so streben es neben der Kommissionspräsidentin auch fast alle EU-Mitgliedstaaten an, sollen neue Produkte oder Dienstleistungen den Anteil von Treibhausgas in der Atmosphäre nicht mehr erhöhen. Der neue Fokus auf Nachhaltigkeit, den EU-Beamte ganz offen Narrativ nennen, beeinflusst auch die detaillierten Empfehlungen zur Wirtschaftspolitik, die die EU-Kommission jedes Jahr den Mitgliedstaaten gibt und die am Mittwoch präsentiert wurden.

In Brüssel sind die Berichte als "Europäisches Semester" bekannt und dieses Mal wurden sie laut Währungskommissar Paolo Gentiloni "grün eingefärbt". So wurden Fortschritte bei der Erreichung der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen integriert. "Wir müssen Investitionshürden abbauen und Investitionen in neue Technologien ausbauen", fordert Valdis Dombrovskis. "Nachhaltiges Wachstum" sei der Schlüssel, sagt der Lette, der als Exekutiv-Vizepräsident der EU-Kommission dafür sorgen soll, dass "die Wirtschaft für die Menschen funktioniert". Hier gibt es noch viel zu tun für Arbeitskommissar Nicolas Schmit. Auch wenn die Arbeitslosigkeit insgesamt niedrig sei, gebe es Regionen mit viel Armut, worunter vor allem Kinder litten. Es sei wichtig, das Bildungsniveau zu erhöhen und einheitliche Regeln für Mindestlöhne einzuführen. Die soziale Ungleichheit bereite ihm ebenso Sorgen wie die geringe Produktivität, so Schmit. Die Sorge, dass Europa hinter die Wettbewerber zurückfällt, wurde oft genannt.

Viele Empfehlungen der EU-Kommission sind wohlbekannt: Portugal sowie Italien, Griechenland und Zypern sollen schneller Schulden abbauen. Wie schon 2019 attestiert die Behörde bei den drei letztgenannten Staaten "exzessive ökonomische Ungleichgewichte". Italien wird jedoch dafür gelobt, im Kampf gegen Steuerhinterziehung große Fortschritte gemacht zu haben. Mittlerweile würden häufiger Rechnungen ausgestellt und elektronische Zahlungen seien nun zum Teil verpflichtend.

Berlin soll mehr für bezahlbaren Wohnraum tun

Deutschland und die Niederlande werden für ihren zu großen Leistungsbilanzüberschuss kritisiert, der die wirtschaftliche Stabilität in Europa gefährdet. Sie sollten mehr Geld ausgeben. Berlin wird jedoch gelobt für den "Trend zu wachsenden privaten und öffentlichen Investitionen" und ermuntert, mehr für nachhaltigen Verkehr und bezahlbaren Wohnraum zu tun. Der Wettbewerb bei unternehmensbezogenen Dienstleistungen und reglementierten Berufen habe sich gar nicht verbessert, klagt die Behörde. Bei Deutschland und den Niederlanden wird wie bei sieben anderen Staaten ein ökonomisches Ungleichgewicht festgestellt.

Aufschlussreiche Details über die Art, wie die EU-Kommission jenen Regionen helfen will, für die der Umstieg in eine klimaneutrale Wirtschaft besonders schwer werden dürfte, sind in den Anhängen der Berichte versteckt. Mit einem mit 7,5 Milliarden Euro ausgestatteter "Just Transition Fund" will von der Leyen die Mitgliedstaaten animieren, rechtzeitig in diese Regionen zu investieren und den dort lebenden Menschen zu helfen, etwa bei der Fort- und Weiterbildung.

In Brüssel kursieren Landkarten, aus denen ersichtlich wird, dass jedes EU-Mitglied Hilfsgelder aus Brüssel beantragen kann. Dies dürfte auch Kalkül sein, um zu verhindern, dass der Fonds in den Verhandlungen über den mehrjährigen EU-Haushalt gekürzt wird. Als förderungswürdig gilt nicht nur die Region Maritsa im armen Bulgarien, wo 12 500 Jobs von der Kohleindustrie abhängig sind, sondern auch Nordjütland im reichen Dänemark: Die dort ansässige Zementindustrie ist für den Ausstoß von acht Prozent aller Treibhausgase des Landes verantwortlich. Im Länderbericht für Deutschland stehen die Kohleregionen im Fokus: Konkret erwähnt werden das Lausitzer Revier sowie das Mitteldeutsche Revier in Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt sowie das Rheinische Revier in Nordrhein-Westfalen. Auf die berechtigte Frage, was dieser "Fonds für den gerechten Übergang" eigentlich mit dem Europäischen Semester zu tun habe, heißt es aus der Kommission schlicht: Dieser passe gut zum Ziel der nachhaltigen Wettbewerbsfähigkeit, welches angestrebt werde.

Die Prioritäten von der Leyens gefallen nicht allen. "Vor kurzem hat die Kommission noch von einer Verschlankung des Semesters gesprochen, jetzt wird es zum Wunschkonzert", sagt Markus Ferber (CSU), wirtschaftspolitischer Sprecher der EVP-Fraktion im Europaparlament. Er fürchtet, dass Umweltschutz und Wachstum gegeneinander ausgespielt werden. Ferber klagt, dass die Regierungen die Brüsseler Empfehlungen ohnehin "kaum umsetzen" und warnt vor Überfrachtung.

Ein Land dürfte die Ratschläge wohl komplett ignorieren: Obwohl Großbritannien die EU am 31. Januar verlassen hat, wird es in der Übergangsphase bis Ende 2020 quasi wie ein Mitglied behandelt. Daher wurde auch für London ein 74 Seiten langes Dokument erstellt. Während Experten der Kommission die Berichte bald in allen 27 Hauptstädten erläutern werden, ist bisher keine Reise auf die Insel geplant. Dies könne sich schnell ändern, sagt ein hochrangiger EU-Beamter: "Wenn man uns einlädt, fahren wir."

© SZ vom 27.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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