Wie immer das große Flüchtlingsdrama weitergeht, das die Menschen in Deutschland und Europa bewegt, eines muss klar sein: Viele der mehr als eine Million Menschen, die in diesem Jahr nach Deutschland kommen, werden lange bleiben. Sie zu integrieren, wird eine beherrschende Aufgabe der kommenden Jahre. Die maßgeblichen Integrationssysteme sind Bildung und Arbeitsmarkt; keine Studie, in der das nicht erwähnt wird. Aber von der Erkenntnis zum Tun ist es ein weiter Weg.
Viele politische Entscheider gefallen sich derzeit darin, vor allem Probleme zu benennen. Auch die schon von ihrer Amtsbezeichnung her zuständige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles dämpft regelmäßig die Erwartungen, dass man Flüchtlinge in größerer Zahl in den Arbeitsmarkt integrieren könne. "Der syrische Arzt ist nicht der Normalfall", redet sie die Qualifikation der Neuankömmlinge klein und prognostiziert steigende Arbeitslosen- und Hartz-IV-Zahlen. Und wenn sie schon dabei ist, freut sie sich auch gleich noch im Kreise von Gewerkschaftern darüber, dass der Mindestlohn "gerade noch rechtzeitig" eingeführt worden sei, um "die Ausbeutung von Flüchtlingen" zu verhindern. Da stellt sich die Frage: Ist sich die Ministerin Nahles des Ernstes der Lage und der Größe der Aufgabe wirklich bewusst, vor der gerade auch ihr Haus und ihre Beamten stehen?
Ausbeutung ist nicht schön, nein, aber ist eine mögliche Ausbeutung im Arbeitsleben durch Niedriglöhne ganz ernsthaft wirklich das zentrale Problem bei der Integration der Zuwanderer? Oder muss es für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nicht vielmehr darum gehen, mit aller Kraft überhaupt Ausbildung und Arbeit zu organisieren, damit möglichst wenige Migranten in die gesellschaftliche Isolation rutschen und womöglich dauerhaft alimentiert werden müssen?
Altes Denken überwinden
Zu beobachten ist derzeit eine erschreckende Diskrepanz zwischen der Größe der Aufgabe und dem eher kleinteiligen Horizont der Akteure. Mit dem Flüchtlingsthema ist Deutschland eine gewaltige Herausforderung zugewachsen, vielleicht die wichtigste seit den Aufbaujahren nach 1945, größer als die Wiedervereinigung. Wer diese Aufgabe bewältigen will, muss groß denken, und neu denken.
Stattdessen machen viele weiter wie bisher, spielen die alten Spielchen, verlieren sich im parteipolitischen Gezänk. Das gewaltige Wort der Kanzlerin "Wir schaffen das!" wird von den eigenen Leuten marginalisiert. Dabei gibt es gar keine Alternative, als zu versuchen, "es zu schaffen". Selbst wenn jetzt Zäune errichtet, Mauern gebaut, Grenzen geschlossen würden, eine Million und mehr Menschen sind ja schon da, und viele werden bleiben. Soll die Situation nicht außer Kontrolle geraten, muss die Integration schnell und möglichst umfassend gelingen.
Bildung und Arbeit - darum geht es also. Bisher aber geschieht wenig, um die Flüchtlinge in Arbeit zu bringen. Dabei sind die Voraussetzungen so gut wie selten. Ausgerechnet jetzt präsentiert sich der deutsche Arbeitsmarkt in glänzender Verfassung. Die Arbeitslosigkeit liegt weit unter drei Millionen (es waren schon mal fünf), im Oktober waren 2,65 Millionen Arbeitslose bei der Bundesagentur für Arbeit registriert, so wenige wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Die Beschäftigungsquote befindet sich auf einem Allzeithoch, die Statistik meldet 43,4 Millionen Erwerbstätige. 612 000 Stellen sind als offen gemeldet.
Es ist bekannt, dass man freie Stellen und Arbeitslose nicht einfach gegeneinander aufrechnen kann, nicht jeder eignet sich für jeden Job. Das gilt für Deutsche, aber auch für Ausländer. Selbst nach vielen Jahren Aufenthalt arbeiten nur 55 Prozent der erwerbsfähigen Asylbewerber und Flüchtlinge, so hat es das Institut für Arbeit (IAB) ermittelt. Bei Migranten liegt die Quote zehn Prozentpunkte höher.
Ministerin Nahles betont den mangelnden Bildungs- und Ausbildungsgrad vieler Neuankömmlinge. Nicht einmal jeder Zehnte bringe die Voraussetzungen mit, um direkt in eine Arbeit oder Ausbildung vermittelt zu werden. Aber was heißt das? Dass man diese Menschen aufgeben muss? Wie falsch wäre das, und wie kurzsichtig angesichts einerseits der Bedürfnisse der Integration und andererseits der Bedürfnisse vieler Betriebe, die dringend Nachwuchs suchen. Eher heißt es, dass die Un- oder Minderqualifizierten besonderer Unterstützung bedürfen. Und hier die gute Nachricht: Rund 50 Prozent der Zuwanderer sind unter 35 Jahre alt, knapp 30 Prozent minderjährig. Diese Menschen stehen also am Beginn ihrer beruflichen Qualifikation. Hier lässt sich etwas tun.
Diese jüngeren Flüchtlinge seien "in ihrer Vielfalt eine gute Bereicherung unserer Arbeitswelt und der Gesellschaft", sagt dazu der Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-Jürgen Weise, der nun im Auftrag der Bundesregierung auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) managt. Niemand könne ernsthaft eine Gesellschaft wollen, in der nur noch "ältere graue Herren durch die Gegend laufen und langsam mit dem Auto auf der Autobahn herumfahren" - treffender kann man die Grantler nicht in ihre Schranken weisen.
Das Allerwichtigste ist nun das Erlernen der deutschen Sprache. Wer die Landessprache nicht spricht, wissen die Soziologen, bleibt im Verhältnis zu den Einheimischen ein Außenseiter. Wer Flüchtlinge integrieren will, muss sie so schnell und so intensiv wie möglich Deutsch lernen lassen. Das kostet viel Geld, Hunderte Millionen Euro, aber selten kann der Staat seine Mittel so punktgenau einsetzen. Jeder Euro, der in Bildung und Ausbildung investiert wird, ist gut angelegt.
Groß und neu denken, das heißt in diesem Zusammenhang: Man muss noch viel schneller werden. Warum nicht Asylbewerbern mit hoher Anerkennungschance sofort einen Sprachkurs anbieten und nicht erst nach langer Wartezeiten? Warum auf traditionellen Standards für diesen Unterricht beharren? Es gibt nicht ausreichend ausgebildeten Fachkräfte für "Deutsch als Fremdsprache"? Dann tut es auch der pensionierte Lehrer. Oder ein sonstiger Freiwilliger, der Wissen weitergeben will - der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Genau das geschieht überall in Deutschland. Es ist die Aufgabe des Staates, dieses Ehrenamt zu fördern und zu unterstützen, nicht es durch Regularien zu erschweren.
Schwieriger wird die Integration der Älteren. Schwierig heißt nicht: unmöglich. Auch hier hilft der heutige Zustand des Arbeitsmarktes. Wenn man die Struktur der offenen Stellen ansieht, stellt man fest: In 60 Prozent der Fälle suchen die Unternehmen Arbeitskräfte mit Ausbildungsabschluss, je 20 Prozent entfallen auf Stellen für ungelernte Arbeitskräfte und für Fach-und Hochschulabsolventen. Das ist ein Angebotsmix, in das viele der Neuankömmlinge sich einfädeln können.
Interessant ist auch der Blick auf die sogenannten Vakanzzeiten, also darauf wie lange die Stellen unbesetzt bleiben. Die liegen bei komplexen Spezialtätigkeiten bei über 80 Tagen. Besonders problematisch aber sind die offenen Stellen für Ungelernte, da suchen Unternehmen häufig drei Monate und länger. Ganz offensichtlich sind die Stellen also häufig nicht durch inländische Arbeitskräfte zu besetzen. Hier ist also ein Bedarf, den Flüchtlinge decken können, wenn es gelingt, sie entsprechend auszubilden und einzuarbeiten: eine Mammutaufgabe für Unternehmen und Bildungseinrichtungen, ermuntert und gefördert durch den Staat.
Groß denken, neu denken: Das betrifft auch das Lieblingthema der Arbeitsministerin, den Mindestlohn. Er wird vielen Flüchtlingen den Weg in den ersten Arbeitsmarkt versperren. Trotzdem kommt die alte Diskussion wieder hoch, werden die bekannten Argumente ausgetragen, wie schädlich der Mindestlohn ist oder gerade nicht. Die Wissenschaft ist uneinig. In der reinen Theorie ist er ein Fehler, weil er Arbeit vernichtet, andere Werte können wichtiger sein, das Signal des gerechten Lohns. Bekanntlich haben sich die Sozialdemokraten in der Koalition durchgesetzt, die Union hat um des lieben Friedens willen mitgemacht. Man kann verstehen, dass die Koalition das Thema nach der ganzen politischen Diskussion nicht mehr anpacken mag. Manche Experten empfehlen wenigstens Ausnahmen vom Mindestlohn für Flüchtlinge, aber das würde die ohnehin kritische Stimmung in Teilen der deutschen Bevölkerung erst recht befeuern.
Klüger ist der Weg, den in dieser Woche der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten gewiesen hat: behutsame Korrekturen am Mindestlohn mit Wirkung für alle. Wenigstens keine Erhöhung des Mindestlohns, wie sie im System vorbereitet ist. Kein Mindestlohn mehr für Praktika. Nach dem Alter gestaffelte Mindestlöhne wie in Großbritannien. Und eine Lockerung der Mindestlohnregeln für Langzeitarbeitslose (zu denen man dann auch die Flüchtlinge zählen würde); bisher dürfen die Unternehmen hier in den ersten sechs Monaten weniger zahlen, vorgeschlagen wird nun eine Verlängerung dieser Ausnahmeregel auf ein Jahr.
Lange Zeit war das System darauf ausgerichtet, Asylsuchende vom Arbeitsmarkt fernzuhalten, damit muss es vorbei sein. Nun geht es um das Gegenteil - und das mit aller Macht und Schnelligkeit.