Disney:Kunst und Ware

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Disneyland in Tokio: Das Geschäft mit den Freizeitparks leidet stark unter der Pandemie. (Foto: Yoshio Tsunoda/imago images)

Disney baut seine Film- und Fernsehsparte um - und zeigt damit auch, wie sich die Unterhaltungsindustrie insgesamt verändern dürfte.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich eine der bekanntesten Firmen der Welt zum Herausforderer erklärt und den Start-up-Konkurrenten zum Platzhirsch - so sehen sie das derzeit bei Disney. Anders lassen sich die Rochaden im Konzern nicht erklären: Disney will Netflix, Synonym für den Siegeszug von Streaming, unbedingt einholen, kulturell wie finanziell. Die Veränderungen senden eine Botschaft an die komplette Industrie: Die Art, wie Bewegtbilder produziert und vertrieben werden, dürfte sich gewaltig verschieben.

Disney will in der Zukunft bei Filmen und Shows erst während oder nach der Produktion entscheiden, ob sie auf der Kinoleinwand, auf einem Streamingportal oder im TV zu sehen sein werden. Die neue prägende Figur im Konzern - nach Geschäftsführer Bob Chapek freilich - ist Kareem Daniel. Er verantwortet künftig eine Abteilung, die sich ausschließlich darum kümmern soll, Inhalte weltweit zu monetarisieren. "Die strikte Trennung von Produktion und Distribution erlaubt es uns, effektiver zu sein", sagt Chapek. "Wir können Inhalte erstellen, die Leute sehen wollen; und dann liefern wir sie dort aus, wo die Leute sie haben wollen."

Zur Erinnerung: Disney war bislang eine riesige Krake, deren Tentakel in sämtliche Sparten der Branche reichten und die wie ein Schweizer Uhrwerk operierten. Wenn das Unternehmen einen Film produzierte, dann ging es niemals nur um Einnahmen im Kino. Es ging immer auch um: Spielzeug, Attraktionen in Freizeitparks, Computerspiele, Klamotten, Kreuzfahrtschiffe. Alles war bis ins kleinste Detail geplant, damit die Kunden am Ende möglichst viel Geld in die vielen Sparschweine warfen.

Doch warum ist Disney, dieser megalomanische Konzern, der in den vergangenen Jahren über Milliardenzukäufe wie Lucasfilm (das Star-Wars-Universum), die Superhelden-Abenteuer von Marvel oder die Filetstücke von 21st Century Fox gewaltig gewachsen ist, an der Börse mit derzeit 228 Milliarden Dollar weniger wert als Netflix mit 238 Milliarden? Deren Modell lautet, noch nicht mal vereinfacht: "Die Kunden schließen ein Abo ab und behalten es möglichst lebenslang."

Netflix hat damit schon vor Jahren die Unterhaltungsbranche revolutioniert. Und all das, was die Firma hat erfolgreich werden lassen, hat sich durch die Corona-Pandemie vervielfacht. Ein paar Meldungen der vergangenen Tage belegen das: Die traditionellen TV-Anbieter in den USA haben im vergangenen Quartal 1,75 Millionen Abonnenten verloren, so viele wie noch nie zuvor innerhalb von drei Monaten. Die weltweit größte Kinokette AMC Theaters hat angekündigt, dass ihr Ende des Jahres das Geld ausgehen dürfte. Die zweitgrößte, Regal Cinemas, hat bereits alle 536 Filialen in den USA geschlossen und 40 000 Mitarbeiter entlassen. Universal Studios, der Freizeitpark in Hollywood, hat seit Juli mehr als 2200 Angestellte vor die Tür gesetzt. Es muss sich also was tun, da sind sich alle einig.

In vier Jahren will Disney 200 Millionen Abonnenten haben - Netflix hat jetzt schon 193 Millionen

Disney hat bereits im Sommer auf die Disruption reagiert und den Start des Films "Mulan" nicht nur verschoben, sondern statt im Kino auf dem Streamingportal Disney+ veröffentlicht. Es war ein Experiment aus der Not heraus, das nun zur Strategie werden dürfte. Investor Dan Loeb, mit etwa einer Milliarde Dollar an Disney beteiligt, forderte im Interview mit der Branchen-Zeitschrift Variety, dass der Konzern auch das Superhelden-Abenteuer "Black Widow" lieber auf dem Portal veröffentlichen solle, anstatt auf die Wiedereröffnung der Kinos zu warten.

"Die Bedeutung dieses Abo-Modells, das jeder eingeführt hat, von Microsoft bis Amazon, wächst weiterhin", sagt er. Disney sollte also nicht nur auf kurzfristige Einnahmen an der Kinokasse setzen, die für "Black Widow" auf knapp 300 Millionen Dollar geschätzt werden, plus die Einnahmen aus anderen Geschäftsbereichen. Stattdessen sollte es lieber die weltweite Zahl der Abonnenten über exklusive Inhalte steigern und damit auch die anderen Geschäftsfelder wie Spielzeug stärken. Am Ende zählt die Gesamtsumme. "Es freut mich, dass sich Disney für das nächste Unterhaltungs-Zeitalter aufstellt", sagt Loeb.

Tatsächlich ist Disney+ für den Konzern einer der Lichtblicke während der Pandemie, nicht nur wegen der unzähligen bereits vorhandenen Inhalte, sondern auch wegen aktueller Produktionen wie etwa des Beyoncé-Knowles-Films "Black is King" oder der Streamingversion des erfolgreichen Musicals "Hamilton". Beim Start vor acht Monaten gab der Konzern an, zwischen 60 und 90 Millionen Abonnenten bis 2024 haben zu wollen. Es sind bereits jetzt 60,5 Millionen, und es gibt Analysten wie Michael Nathanson, die für 2024 mehr als 150 Millionen prognostizieren. Zu Disney gehören auch die Portale Hulu und das auf Sport fokussierte ESPN+, bald kommt der internationale Service Star hinzu. Insgesamt soll der Konzern in vier Jahren auf mehr als 200 Millionen Abonnenten kommen. Netflix hat heute schon 193 Millionen. Disney ist wirklich der Herausforderer.

Es ist freilich keine revolutionäre Entscheidung, künftig stärker auf Streaming zu setzen; auch andere Konzerne wie Comcast oder Warner Media haben ihre Abteilungen umstrukturiert. Die Veränderungen betreffen eher die Kreativen: Die bislang strikte Trennung von Serie, Kinofilm, TV-Film, Mini-Serie und anderen Formen verschwimmt immer mehr. Wer nun für Disney ein Drehbuch schreibt, der weiß nicht, wo das fertige Werk am Ende zu sehen sein wird. Ist das schlimm? Nein. Sie seien deshalb so erfolgreich in Amerika, weil sie Filme wie Kunst produzieren und wie Ware vertreiben würden, hat schon der deutsche Regisseur Wolfgang Liebeneier in den Fünfzigerjahren gesagt. Genau das will Disney nun wieder tun.

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