Morgens noch ist Daniela Reim in ihrem Büro in Oldenburg in die Knie gegangen, um einem kleinen Jungen im Kinderwagen persönlich Hallo zu sagen. Hat in ihrer überströmend freundlichen Art seinen Eltern das Gefühl gegeben, dass sie und die Kindergeldsache, mit der sie zu Reim gekommen waren, gerade das Allerwichtigste auf dieser Welt sind. Sie plaudert mal auf Rumänisch mit ihnen, mal auf Deutsch. Man lacht und verabschiedet sich. Wenige Stunden später spürt Reim wieder einmal, wie es ist, nicht gemocht zu werden. Man hat sie festgesetzt, einfach so. Nicht in ihrem Büro. Sondern draußen im Oldenburger Münsterland, auf dem Parkplatz einer Wohnanlage für Arbeiter aus Osteuropa.
Sie sitzt gerade am Steuer ihres mobilen Büros, eines schwarzen VW-Bullis, als sich ein weißer Transporter vor ihren Wagen schiebt. Ein Mann steigt aus und sagt Reim, dass sie hier nicht sein dürfe. Privatgrund. Wegfahren lässt er sie allerdings auch nicht mehr. Was Reim dort macht, fragt er nicht - das Anliegen von Reim steht ja auch groß auf dem Fahrzeug: "Beratungsstelle für mobile Beschäftigte". Mobile Beschäftigte, das sind Reims Schützlinge. Arbeiter aus Osteuropa, die mal für ein paar Monate, mal aber auch für Jahre hier sind. Kurze Zeit später trifft der Eigentümer der Anlage ein. Man hört wütende Worte über "diese Frau". Alle sind sehr aufgeregt, Reim läuft mit wehenden schwarzen Haaren umher. Ein Anwalt eilt herbei und weist sie darauf hin, dass sie hier Hausverbot habe. Die Polizei kommt und nimmt allerhand Personalien auf, einer der Beamten erklärt Reim, dass sie als Beschuldigte keine Angaben machen müsse. Dann darf sie fahren.
"Haben Sie das gehört?", sagt sie wieder im Auto sitzend zu dem Reporter. "Ich soll mir einen Anwalt nehmen. Als wär ich ein Verbrecher." Reim schweigt kurz, was ungewöhnlich für diese Frau ist. Dann sagt sie, dass sie sich das nicht bieten lassen und den Mann wegen Nötigung anzeigen werde. Die Spur ihres angeblichen Vergehens liegt nun auf einigen Holztischen vor den Häusern der Wohnanlage: kleine rote Broschüren vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) mit der Aufschrift "Wissen ist Schutz" auf Rumänisch. Reim hatte sie dort hingelegt.
"Wenn ich über das Land fahre, versuche ich manchmal noch, die schönen Seiten zu sehen"
Der Kontakt zu den Arbeitern ist Teil von Reims Arbeit. Tausende von ihnen aus Ländern wie Rumänien, Polen oder Bulgarien sollen allein in der Gegend von Oldenburg beschäftigt sein. Für ein paar Euro erledigen sie Arbeit, auf die Deutsche meist keine Lust mehr haben: Sie pflücken Erdbeeren, ernten Pilze, schlachten Vieh, verpacken Hähnchen, bauen Häuser oder schweißen Schiffe zusammen. Statistiker können nicht sagen, wie viele dieser Arbeitsnomaden sich in Deutschland verdingen. Bekannt ist nur, dass Ende März bundesweit 399 000 Polen, 321 000 Rumänen und 118 000 Bulgaren sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren. Wer von diesen Leuten sich nur vorübergehend im Land aufhält, lässt sich nicht feststellen. Immer wieder gibt es Berichte über ihre unerträglichen Arbeits- und Lebensbedingungen. Manche sprechen gar von einem modernen Sklaventum mitten in Deutschland. Andere sagen: Das ist besser geworden. Wer hat recht?
"Wenn ich hier mit dem Bulli über das Land fahre, versuche ich manchmal noch, die schönen Seiten zu sehen", sagt Reim. "Die Pferde, die blühenden Kartoffelfelder." Nur einen Augenblick später sind diese Worte wieder vergessen, und sie erzählt von dem Unternehmer, der seine Arbeiter an Weihnachten durcharbeiten lassen wollte. Und von einem Subunternehmer bei der Meyer-Werft in Papenburg, gegen den ermittelt werde, weil er den Mindestlohn unterlaufe und andere schmutzige Dinge mache. Reim scheint ständig in eine Welt zu blicken, die sich hinter den Kulissen des Alltags verbirgt. Wo andere hier ein adrettes Bauernhaus sehen, erkennt sie eine Unterkunft für Arbeiter, die für ein Bett 250 bis 300 Euro Miete zahlen. Wo andere einen Transporter wahrnehmen, sieht sie das Fahrzeug eines Subunternehmers, der über Wanderarbeiter verfügt, als wären sie sein Eigentum. Wo andere ein unbewohntes Haus zu sehen glauben, weiß sie: Hier sind Phantome untergebracht. Phantome - so nennt Reim jene Arbeiter, die nicht angemeldet sind, die kein Konto haben, keine Krankenversicherung in Deutschland, weil sie als Entsandte tätig sind.
Bundesfinanzminister:Scholz hält zwölf Euro Mindestlohn für "angemessen"
Das schreibt der SPD-Politiker in einem Gastbeitrag. Derzeit liegt der Mindestlohn bei 8,84 Euro. Die große Koalition will ihn bis 2020 auf 9,35 Euro erhöhen.
Am Anfang ihrer Arbeit stand eine Fernsehreportage über Lohnsklaven im Sommer 2013. Darin ging es um Schlachter aus Osteuropa, die bei Vechta arbeiteten - genau in der Gegend, in der Reim damals wohnte. Die Bilder machten die gebürtige Rumänin so wütend, dass sie vom Sofa aufsprang und die Sendung direkt am Bildschirm verfolgte. "Ich hatte mir überhaupt nicht vorstellen können, dass in meiner Nachbarschaft Arbeiter aus meinem Heimatland derart ausgebeutet wurden. Sie bekamen kaum Geld, machten Drecksarbeit, lebten zusammengepfercht in engen Unterkünften."
Gleich am nächsten Tag kontaktierte sie einen Mann, der in der Reportage gezeigt worden war. Er erzählte ihr, dass in Oldenburg Leute mit Rumänischkenntnissen gesucht wurden, um solche Arbeiter besser unterstützen zu können. Reim, die in Rumänien Geschichtslehrerin war, dann hier studierte und später in einem Archiv tätig war, bewarb sich und konnte sehr schnell in der Beratungsstelle anfangen. Warum sie das gemacht hat? "Ich hatte das Gefühl, dass ich mich entscheiden musste. Ich sprach die Sprache, ich konnte helfen." Aber woher kommt diese Empörung, die sie vom Sofa aufspringen ließ? Reim überlegt kurz, so, als habe sie sich diese Frage selbst noch nie gestellt. "Ich habe ein gerechtes Deutschland kennengelernt, mein Leben war gut. Da war es einfach ein Schock für mich, dass so nahe bei mir Menschen wohnten, die auf diese Weise behandelt wurden, nur weil sie kaum Deutsch sprachen und bei solchen Subunternehmern gelandet waren."
Reim ist einer der wenigen Menschen in Deutschland, die sich um die mutmaßlich Hunderttausenden Wanderarbeiter kümmert. In ganz Deutschland machten das 50 bis 60 Personen, teils vom Gewerkschaftsbund bezahlt, teils vom Arbeitsministerium, teils von den Bundesländern, sagt Dominique John, der das Projekt "Faire Mobilität" beim DGB leitet. Doch noch immer gebe es große Lücken im Land, kritisiert er. Die Beratungsstelle, in der Reim arbeitet, hatte das Land Niedersachsen 2013 ins Leben gerufen. Ein Brand in einer Arbeiterunterkunft mit zwei Toten und die zunehmende Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für das Schicksal der Wanderarbeiter hatten die Politik damals aufgeschreckt.
"Diese Leute werden verschlissen und entsorgt wie Maschinenschrott"
Seither hat sich Reims schwarzer Bulli längst zum Herz der Beratungsstelle entwickelt: Mit ihm stellt sie sich auf die Parkplätze der Discounter, vor das Werkstor der Meyer-Werft - überall dorthin, wo sie am ehesten Arbeiter aus Osteuropa trifft. Sie spricht die Leute an, fragt, wie es ihnen geht und was sie verdienen. Oft formt sich dann auf den abgekämpften, mürrisch dreinblickenden Gesichtern ein Lächeln. Die Leute bleiben dann stehen und behaupten, dass alles gut sei. Reim schreibt ihnen trotzdem ihre Handynummer auf. "Nach ein oder zwei Tagen rufen die ersten an", sagt sie. Weil eben doch nicht alles in Ordnung ist.
Der Bulli legitimiert Reim, wenn sie fremde Menschen anspricht. Er lässt sie dort auftauchen, wo Unternehmer nicht mit ihr rechnen. Und er ist Schutzraum. Zum Beispiel, als Reim nach Großenkneten fährt, um eine Pilzpflückerin zu treffen. Großenkneten - in den achtziger Jahren verband Deutschland noch das Lied "Da, da, da" mit diesem Ort, weil die Band Trio ihre Adresse in Großenkneten auf das Cover der Platte gedruckt hatte. Heute ist es ein Zentrum für Arbeiter aus Osteuropa, die auf dem Gelände eines ehemaligen Fliegerhorsts untergebracht sind. Die Pilzpflückerin wohnt in einem "Wohnpark", umzäunt mit Stacheldraht. Reim hat dort wie auch an einigen weiteren Orten Hausverbot, aber die Frau möchte Reim sowieso inkognito treffen, weit weg von Blicken und Kameraaugen. Als sich der Bulli dem vereinbarten Treffpunkt nähert, blitzen an einem parkenden Fahrzeug kurz die Scheinwerfer auf. "Das muss sie sein", sagt Reim. Sie hält an, wartet kurz, dann steigen eine Frau und ein Mann aus dem Auto und huschen zum Bulli. Tür auf. Schnell rein. Tür zu. Im Bulli fühlen sie sich sicher.
Die Frau hat ihren Freund mitgebracht. Es ist ein junges Paar, Mitte zwanzig. Reim erstickt die anfängliche Unsicherheit der Frau mit einem munteren "Bună seară", einem "Guten Abend" auf Rumänisch. Die beiden unterhalten sich kurz, der Mann schaut etwas grimmig und bleibt stumm. Dann zeigt die Rumänin Reim ihre Gehaltsabrechnung. Sie bekommt den Mindestlohn, 8,84 Euro, für den Monat knapp 1500 Euro brutto. Mit diversen Zuschlägen für Sonderschichten sind es 2400 Euro brutto. Sie hatte 18 Monate durchgearbeitet - ohne einen Urlaubstag zu nehmen. Doch nie habe sie dafür einen finanziellen Ausgleich erhalten, sagt die Frau. Und als sie zuletzt krankgeschrieben worden war, habe ihr die Vorarbeiterin gesagt, dass sie keinen Cent Krankengeld bekomme. Reim studiert die Abrechnung, macht Fotos und sagt, dass sie sich darum kümmern werde. Das Paar geht zu seinem Auto zurück. Nicht mehr ganz so verhuscht.
Reim macht die Menschen selbstbewusst, sie merken zum ersten Mal, dass da jemand ist, der ihnen hilft. Nur wie passt das große Auto, mit dem das Pärchen gekommen ist, zu einem Gehalt von 2400 Euro? Wie können Lohnsklaven sich so ein Luxusgefährt leisten? Ist vielleicht doch nicht alles so schlimm? Reim lässt sich etwas Zeit mit der Antwort. "Es sind keine Neuwagen. Manchen sind diese großen Autos wichtig, sie sind ein Ringen um Anerkennung. Und manchmal auch Trost dafür, dass die stupide Arbeit nicht umsonst war." In Rumänien müssen viele Monate Verwandte auf die Kinder aufpassen. Oft bleibt auch die Frau für lange Zeit allein zurück. Wer hier arbeitet, kann es sich nicht leisten, mit leeren Händen aus Deutschland zurückzukommen. So viel zum Auto.
Dass die Leute mittlerweile nicht mehr nur mit Hungerlöhnen abgespeist werden, ist dem Mindestlohn zu verdanken. Die Arbeiter auf der Pilzfarm und in den Schlachtereien erhalten nun meist die 8,84 Euro. Schweißer in der Werft bekommen auch schon mal zehn Euro und mehr. Am unteren Ende der Lohnhierarchie stehen allerdings die Erdbeerpflücker. Sie werden in der Regel nicht nach Stunden bezahlt, sondern nach gepflückter Menge - da rückt der Mindestlohn in weite Ferne. Reim zeigt einen Gehaltszettel, den sie fotografiert hat. Zehn Tage Arbeit erbrachten einen Lohn von 275 Euro. Davon gingen ab: Einkommensteuer, Soli und Kirchensteuer. Und ein Vorschuss, der gezahlt wurde, damit sich der Arbeiter etwas zu essen kaufen konnte. Der Auszahlbetrag lag bei 70 Euro. Abgezogen wurden später noch die Kosten für die Unterbringung. Am Ende blieben 16 Euro, und der Pflücker hatte keine Ahnung, wie er und seine Kollegen nach Rumänien zurückkommen sollten. Dass sie nicht auf dem Feld schlafen mussten, verdanken sie Reim. Sie ist wie ein Gelber Engel für Wanderarbeiter, auch wenn sie erst dann eingreifen kann, wenn ihre Schützlinge nichts mehr zu verlieren haben, ihnen ohnehin gekündigt wurde oder sie wieder in ihre Heimat gehen. Denn sobald Reim ihretwegen auftaucht, sind sie ihren Job los. Im Durchschnitt hat sie sieben Fälle pro Tag. Sie klärt dann etwa, warum ein Subunternehmer die Unterschrift eines Arbeitnehmers gefälscht hat, füllt Anträge aus, spricht mit der Berufsgenossenschaft und fordert Lohn ein. Es ist eine Sisyphusarbeit. Trotzdem ist sie bei jedem neuen Fall derart empört, als hätte sie noch nie zuvor eine vergleichbare Übeltat gesehen.
Einer, der die Gegend um Oldenburg von klein auf kennt, ist Peter Kossen. Heute ist er Pfarrer in Lengerich, bis vor zwei Jahren war er bei der Kirche in Vechta angestellt. Kossen sah, wie die Region durch Landwirtschaft und die Fleischindustrie zu Wohlstand kam. Er bekam aber auch mit, wie sich die dunkle Seite entwickelte, gefördert durch die starke Ausweitung der Werkvertrags- und Leiharbeit. "Die Arbeiter liefern sich aus", sagt Kossen. "Diese Leute werden verschlissen und entsorgt wie Maschinenschrott. Für die Subunternehmer sind sie Wegwerfmenschen. Und das wird auch so bleiben, solange das Werkvertragswesen nicht reguliert wird."
"Sie geht oft bis zum bitteren Ende." Bekommt sie deswegen so viele Hausverbote? "Genau"
Und was sagen die Unternehmer selbst? Der Mann, der mit seinem Wagen Reim die Ausfahrt versperrte, reagiert nicht auf Anfragen. Ein anderer sagt, dass sich vieles verändert habe, schon weil es nicht mehr so leicht sei, noch Leute zu finden. Die Wirtschaft in Osteuropa laufe gut. Wer jetzt noch jemanden nach Deutschland holen wolle, müsse vernünftig mit seinen Leuten umgehen. Und die vielen negativen Berichte? "Schwarze Schafe." Aber dann ist es doch ganz gut, dass es jemanden wie Reim gibt? Da lacht der Mann auf. "Also die Reim", sagt er, "die geht zu weit."
"Was heißt das?"
"Sie ist manchmal dreist." Mit dieser Meinung steht er nicht allein da. Selbst Reims Kollegin Mariya Krumova sagt: "Daniela ist so ...", dann ringt sie um die richtigen Worte, "sie geht oft bis zum bitteren Ende." Bekommt sie deswegen so viele Hausverbote? "Genau."
Als Reim das hört, lacht sie nur. "Stimmt, ich bekomme immer Ärger. Aber ich will den direkten Kontakt mit den Subunternehmern haben." Angst hat sie nicht? "Nein, ich bin bisher nur einmal im Auto verfolgt worden. Aber dann habe ich meinen Schutzengel bei der Polizei angerufen. Der half mir." Ein Schutzengel? "Ich habe mehrere: beim Zoll, bei der Polizei. Ich bin sehr dankbar dafür. Man kann ja nicht immer alleine handeln", sagt Reim.
Einige Wochen nach dem Treffen schickt sie noch eine kurze Nachricht mit der Fotografie eines Artikels aus der Ostfriesen-Zeitung. Der Subunternehmer der Meyer-Werft, über den sich Reim auf den Fahrten durch Ostfriesland sehr erregte, soll nun ein Bußgeld in sechsstelliger Höhe zahlen. Reim ist auch in diesem Fall bis zum bitteren Ende gegangen.