Verkehr:Mit Tempo 300 in die Pleite

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Ein Eurostar-Zug aus London kommt im Pariser Gare du Nord an: Vor der Corona-Pandemie fuhren die Züge zweimal in der Stunde, jetzt noch einmal am Tag. (Foto: Michel Euler/AP)

Dem Eurostar droht wegen der Pandemie die Insolvenz. Weder Großbritannien noch Frankreich fühlen sich zuständig, das einstige europäische Vorzeigeprojekt zu retten.

Von Leo Klimm, Paris

In kaum mehr als zwei Stunden von London nach Paris brausen, unter dem Ärmelkanal hindurch: Der Eurostar lässt zwei Weltmetropolen aneinanderrücken, erübrigt klimaschädlichen Flugverkehr - und war seit dem Start des schnellen Tunnelzugs 1994 ein konkreter Beitrag zur europäischen Einigung. Jetzt droht die Verbindung zwischen dem Kontinent und Großbritannien zu reißen. Der Eurostar, warnt die Unternehmensspitze in dramatischen Worten, steht vor der Pleite. "Die Katastrophe ist möglich", sagt Eurostar-Chef Jacques Damas.

So sehr der Highspeed-Bolide, 300 Stundenkilometer schnell, einst ein europäisches Symbol war, so symbolträchtig wäre es, wenn ihm nun, kurz nach dem Brexit, tatsächlich das Geld ausginge. Hauptgrund für die Krise ist allerdings die Corona-Pandemie: Zurzeit fährt wegen der zahlreichen Reisebeschränkungen, bestehend aus Testpflicht und Quarantänezwang, täglich nur ein Zug von Paris nach London und zurück; der ist nach Unternehmensangaben zu 80 Prozent leer. Ein weiteres Zugpaar verbindet Amsterdam und Brüssel mit der britischen Hauptstadt. In der Zeit vor Corona fuhren in jede Richtung bis zu zwei Züge stündlich. Der EU-Austritt Großbritanniens, auch nicht gerade eine Ermutigung zum Reisen, macht nun alles noch schwieriger.

"Wir verbrennen gerade unser ganzes Cash", sagt Firmenchef Damas. "Irgendwann im zweiten Jahresquartal" drohe die Zahlungsunfähigkeit, wenn das so weitergehe. Angesichts der geringen Auslastung kommt kaum frisches Geld ins Unternehmen. Seit April vergangenen Jahres lägen die Erlöse bei fünf Prozent des früheren Niveaus, sagte Damas der Nachrichtenagentur AFP. 2019 hatte der Umsatz bei 1,1 Milliarden Euro gelegen. Auch die Unternehmerlobby London First schlägt Alarm und fordert die Regierung von Premierminister Boris Johnson auf, Eurostar mit Steuergeld zu retten. Der schnelle Zug in die EU ist bei Geschäftsreisenden sehr beliebt.

Doch die vertrackte Struktur des Unternehmens erschwert die Sache erheblich: "Es ist eine französische Firma mit Sitz in England, deshalb helfen ihm die Engländer nicht", sagt Christophe Fanichet, Vorstand bei der französischen Bahn SNCF, der die Mehrheit an Eurostar gehört. "Dem Unternehmen wird aber auch von den Franzosen nicht geholfen - weil es in England sitzt." Niemand fühlt sich zuständig. Jede Seite wartet darauf, dass die andere einspringt.

Notkredite reichen nicht

Der staatliche französische SNCF-Konzern, der selbst über einen Einnahmerückgang von fünf Milliarden Euro klagt, besitzt 55 Prozent an Eurostar. Weitere fünf Prozent hält die belgische Bahn SNCB. Der restliche Anteil in Höhe von 40 Prozent, der früher Großbritannien gehörte, liegt heute bei einem Konsortium aus britischen und kanadischen Fonds.

Die Aktionäre haben zuletzt schon 210 Millionen Euro an akuter Nothilfe für Eurostar gewährt; hinzu kommen hastig aufgenommene Kredite in Höhe von 450 Millionen Euro. Um Geld zu sparen, ist ein Großteil der Mitarbeiter seit Monaten in Kurzarbeit. Doch das alles reicht nicht.

"Eine dritte Partei muss ihren Job machen, und das sind die Regierungen", sagt Eurostar-Chef Damas. Konkret geht dieser Appell an die Regierung Großbritanniens, weil Eurostar dort ansässig ist. Damas fordert, dem Tunnelzug gleichen Zugang zu Staatsbürgschaften für Darlehen zu gewähren wie Fluggesellschaften oder Flughäfen. Auch einen Rabatt auf die Trassenpreise zur Schienennutzung will er. Die Lobby London First sekundiert und verlangt in einem Brief an die britischen Minister für Finanzen und für Verkehr Steuerentlastungen für Eurostar.

Vage Antworten aus London und Paris

Die Antwort der Regierung in London bleibt bisher äußerst vage. Man werde weiter mit Eurostar zusammenarbeiten und bemühe sich, dass wieder mehr grenzüberschreitende Reisen möglich würden, heißt es beim Verkehrsministerium. Wie in Anbetracht der gegenwärtigen Infektionszahlen wieder mehr Menschen reisen sollen, sagt die Regierung nicht. Ähnlich schwammig äußert sich Frankreichs Finanz- und Wirtschaftsminister Bruno Le Maire. Er sagt sehr allgemein seine Unterstützung für das notleidende Unternehmen zu. Und während London und Paris solchermaßen taktieren, fährt der Eurostar mit Hochgeschwindigkeit Richtung Pleite.

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