Damaskus, 30. Dezember 2016, spätabends. Fadi Ayan (Name geändert), 23, sitzt in seinem Wohnzimmer. Er ist erschöpft. Den ganzen Tag hat er seine Mutter gepflegt, die vor Kurzem bei einem Autounfall verletzt wurde. Im Vorort von Damaskus ist es dunkel geworden, die Straßen sind menschenleer. Ayan zückt sein Handy und fängt an zu tippen: "Hallo an alle, das hier ist mein erster Post. Wenn ihr eine echte Herausforderung sucht, fügt mich hinzu oder schickt mir euren Nutzernamen als Kommentar." Er schreibt es in ein Forum des Smartphone-Spiels "Plants vs. Zombies Heroes", kurz PVZ.
Mehr als 2000 Mitglieder des Forums lesen seinen Post. Der 23-Jährige sucht jemanden, der das strategische Kartenspiel ernsthaft beherrscht. Jemanden, den er nicht nach drei Minuten besiegt wie sonst immer.
Coburg, 31. Dezember 2016, 04.59 Uhr. Kommentar Nummer neun unter Ayans Post: "Fehringer, füg mich hinzu." Er stammt von Franz Peters, 33, Personalentwickler aus Coburg.
Die Männer treten im Online-Kartenspiel gegeneinander an, Ayan als Pflanze, Peters als Zombie. Sie suchen die passenden Helden und entwickeln Strategien, bei denen bestimmte Superkräfte und die 40 virtuellen Karten ein möglichst starkes Deck, einen Stapel aus virtuellen Karten, bilden. Sie teilen ihre Kräfte bewusst ein, versuchen die Züge des Gegners zu durchschauen, wollen im richtigen Moment die entscheidende Karte ziehen. Peters gewinnt die ersten beiden Spiele. "Er war richtig gut, viel besser als alle anderen, die sich auf meine Anfrage gemeldet haben", erzählt Ayan. Er schickt Peters die erste Privatnachricht im Chat der PVZ-App. Wenn er die nächste Runde gewinne, schreibt er, müsse der Deutsche mit ihm via Facebook-Call sprechen. Ayan gewinnt.
Doch es geht nicht nur ums Können auf dem Smartphone. Mittlerweile haben die beiden Gamer ein viel größeres Ziel: Sie wollen sich in der analogen Welt gegenüberstehen. Peters hat im Laufe der Gespräche immer mehr Details über das Leben des Syrers erfahren. Sie haben sich lange über Musik, über ihre Familien, über den Bürgerkrieg unterhalten. Im April hat Peters den Entschluss gefasst, Ayan auf legalem Weg nach Deutschland zu holen.
Coburg, Mai 2017. Franz Peters kommt von der Arbeit nach Hause. In grauer Anzughose und weißem Hemd setzt er sich auf die breite Couch und schaltet den Laptop an. Später muss er noch zu einem Geschäftsessen, gerade hat er ein Training zu "Successful Negotiation of Professionally Trained Buyers" hinter sich gebracht.
Sein Handy vibriert, auf dem Display erscheint das grüne Viereck mit der Sprechblase und dem Telefonhörer. Whatsapp. "Franzoooo, Shmanzoooo", steht da. Eine Nachricht von Ayan. Die beiden schreiben mittlerweile täglich, mehrmals die Woche skypen sie, auch heute. Für das Gespräch ist Ayan extra in ein Damaszener Einkaufszentrum gefahren, in seiner Wohnung ist die Internetverbindung schlecht. Eine Stunde lang spielen sie PVZ und unterhalten sich währenddessen per Videoanruf. "Oh mein Gott, du hast schon wieder so ein Glück", ruft Peters und schiebt die Karten auf seinem Smartphone-Display umher. "Und du bist so was von tot", sagt Ayan und grinst aus dem Bildschirm von Peters Laptop.
Vier Monate lang haben die beiden Männer an der perfekten Taktik gearbeitet, sich gegenseitig beraten, bunte Karten aus ihrem Kartenstapel entfernt und neue dazugenommen, um ihn immer weiter zu optimieren. "Wenn ich ein Deck kreiere, arbeite ich solange daran, bis meine Gewinnrate bei 80 bis 90 Prozent liegt", sagt Peters. Die beiden spielen in der höchsten Liga, der PVZ Heroes Ultimate League.
Ayan sagt, er sei Christ und homosexuell - zwei Dinge, die in seiner Umgebung niemand erfahren darf. Auch deshalb möchte er, dass sein echter Name anonym bleibt. "Wenn jemand hier mitbekommt, dass du schwul bist, schneiden sie dir die Kehle durch und glauben, dass Gott sie dafür belohnen wird", sagt er. "Das in Syrien ist kein Leben, es ist die Hölle." Bomben und Schüsse auf den Straßen gehörten zu seinem Alltag. Er verlasse kaum das Haus, soziale Kontakte habe er keine. Sein Vater sei vor eineinhalb Jahren entführt worden, wohin und was mit ihm geschehen ist, wisse niemand. All das berichtet Ayan, dabei wirkt er gefasst. Doch er scheint auch verzweifelt und einsam, verbringt viel Zeit mit Online-Strategiespielen und amerikanischen Serien. Er habe sich selbst Englisch beigebracht, sagt er. Er ist so gut, dass er fast ohne Akzent und Fehler spricht.
Eine Zeit lang habe er oft darüber nachgedacht, aus Syrien zu flüchten. Doch die Angst, bei der Reise zu sterben, habe ihn davon abgehalten, sagt Ayan. Also entschied er sich, zunächst seinen Bachelor in BWL an der Universität in Damaskus abzuschließen.
Jetzt, zwei Jahre später, motiviert Peters ihn, sich für ein Studentenvisum in Deutschland zu bewerben und bietet an, die notwendige Bürgschaft zu übernehmen. Damit übernimmt Peters die Verantwortung - im Zweifel auch die finanzielle - für Ayan, sollte der Syrer in Deutschland Probleme machen.
Für die Bewerbung braucht Ayan etwa 900 Euro. Mühsam kratzt er alles zusammen, was er besitzt. Er leiht sich Geld von seinen Verwandten, doch es reicht nicht ganz. Peters überweist ihm den Rest. "Fadi ist hochintelligent und eine richtig coole Socke", sagt er. "Da wo er gerade ist, hat er nichts verloren. Deshalb mache ich das."
Viele von Peters' deutschen Freunden sind skeptisch, sagen ihm, er lasse sich ausnutzen. "Ich sage immer: Lernt ihn erst einmal selbst kennen und dann werdet ihr sagen, dass ihr genauso gehandelt hättet." Er vertraut Ayan, sieht in ihm eine Bereicherung für die Gesellschaft. Er sei jemand, in dem viel Potenzial stecke und der sich ohne Probleme in Deutschland integrieren würde. Peters hat ein Diplom in Psychologie, auch deshalb könne er besser als andere erkennen, ob ihn jemand anlügt, glaubt er.
"Ciao Diggi, hauste rein", sagt der Syrer
Seine Bekannten seien auch deshalb verwundert, weil Peters der Einwanderungspolitik der Bundesregierung sonst eher kritisch gegenübersteht. "Es wurden ungefiltert Leute ins Land geholt, ohne dass die Frage gestellt wurde: Was machen wir mit denen? Sie wollen arbeiten, wollen etwas tun, und die Behörden kommen gar nicht hinterher."
Doch Ayan wird nicht als Flüchtling nach Deutschland reisen, er wird kommen, um seinen BWL-Master zu machen. Dafür hat er heute sechs Stunden Deutsch gelernt, seit einer Woche beschäftigt er sich mit der Sprache. "In einem Jahr werde ich genauso gut sprechen können wie Franz", sagt er. Seine Methode: Wörter und Sätze in Google Translate eingeben, in sein Heft schreiben und laut aufsagen. Ayan achtet besonders auf die richtige Aussprache, wiederholt jede Silbe so oft, bis sie nahezu perfekt sitzt. Er schickt Peters Fotos von seinen Notizen, stellt Fragen zur Grammatik, will jetzt schon so sprechen wie die Leute in Deutschland. "Ciao Diggi, hauste rein", sagt Ayan am Ende eines Telefonats. Peters lacht.
Es ist 22 Uhr. Peters ist von seinem Geschäftsessen zurück. Er liegt auf dem Sofa und spielt auf der Playstation "Horizon Zero Dawn". Das Spiel projiziert er auf eine sechs Quadratmeter große Leinwand, so groß, dass der weiße Stoff die Wohnzimmertür zur Hälfte verdeckt. Auf seiner Brust liegt das Smartphone, wieder telefoniert er mit Ayan. "Der Kampf wird jetzt mega heftig, ich bin gleich nicht mehr ansprechbar", sagt er. Eine Stunde lang hat Peters im Spiel die rothaarige Jägerin Aloy mehrere Fallen rund um ein riesiges Stahltier legen lassen. Erst dann greift er die Maschine an.
Spielen ist mehr als Spaß
Peters spielt nicht nur zum Spaß, er bezeichnet sich als "Competitive Player". Für die "Streetfighter"-Weltmeisterschaft ist er schon nach Las Vegas gereist, schaffte es knapp unter die Top 100. "Ich habe einfach einen gewissen Exzellenzanspruch an alles, was ich mache", sagt er. Das sei es, was ihn mit Ayan verbinde. "Wie viele Stunden haben wir über so ein unbedeutendes Handyspiel gelabert, wie viele Stunden haben wir uns den Kopf zerbrochen, welches das perfekte Deck ist." Dahinter verberge sich eine Grundeinstellung: Perfektion in allen Lebenslagen.
Ayan bezeichnet Franz Peters als seinen besten Freund. Noch nie habe er jemanden getroffen, der ihm so ähnlich sei, noch nie habe er jemandem so viel von sich erzählt. "Ich habe oft versucht, mich bei Franz zu bedanken, aber er ärgert sich darüber nur", sagt er. Peters entgegnet, er wolle nicht auf ein Podest gestellt werden. Er freut sich erst, wenn Ayan wirklich hier in Deutschland ist. Wer hohe Erwartungen habe, sagt er, könne leicht enttäuscht werden.
In fünf Wochen wird sich endgültig entscheiden, ob Ayan einen Studienplatz bekommt. Die beiden sind überzeugt, dass es klappt. Peters will Ayan zum Semesterbeginn im Herbst vom Flughafen abholen. Dann werden sich die Freunde zum ersten Mal gegenüberstehen.