Das Virus kam per Flugzeug zurück nach China. Am 10. Juli landete die Air-China-Maschine CA910 aus Moskau in der ostchinesischen Stadt Nanjing. Einer der Passagiere hatte sich mit der Delta-Variante infiziert und offenbar trotz zahlreicher Tests vor dem Abflug das Flugzeug besteigen können. Nach der Landung wurde die Maschine gesäubert und desinfiziert, eine der Reinigungskräfte steckte sich dabei an - trotz vorheriger Impfung. Vom Flughafen breitete sich das Coronavirus erneut im Land aus: In Peking, in Shanghai, ja selbst in Xinjiang, tief im Westen an der Grenze zu Kasachstan wurden auf einmal Erkrankungen gemeldet. Es sind zwar nur ein paar hundert Fälle, doch die Aufregung ist groß in China, es ist der schwerste Ausbruch seit der Abriegelung Wuhans.
Allmählich mehren sich die Stimmen in China, die sachte einen Kurswechsel vorschlagen, ein Ende der Null-Fall-Strategie, man müsse lernen, mit Corona zu leben. Es verfängt jedoch nicht: In den vergangenen anderthalb Jahren hat die Propaganda den Chinesen eingebläut, dass man nur in der Volksrepublik vor dem heimtückischen Virus sicher sei. Die einzige Chance, um das zu gewährleisten, lautet: Grenzen dicht. Reisen zwischen China und dem Rest der Welt finden seit dem Frühjahr 2020 kaum noch statt. Nur eine Handvoll Flugzeuge darf jeden Tag in China landen. Danach muss man für mindestens zwei Wochen in Hotelquarantäne, wer nach Peking möchte, muss für mindestens drei Wochen nach der Landung der Hauptstadt fernbleiben.
Neue Reisepässe gibt es nur noch in Ausnahmefällen
Für viele internationale Unternehmen in China wird das allmählich zum Problem. Wen soll man noch als Manager entsenden, wenn der Heimaturlaub auf einmal Monate dauert und jede Dienstreise nach Europa wochenlange Isolation nach sich zieht? Für viele Chinesen sind die Einschränkungen noch gravierender, neue Reisepässe stellen die Behörden nur noch in Ausnahmefällen aus. Wer nicht reist, kann das Virus nicht ins Land bringen.
Null-Covid ist und bleibt die Staatsräson. Corona muss niedergerungen werden, lautet der Auftrag aus Peking. Gouverneure und Bürgermeister achten deshalb penibel darauf, dass in ihren Provinzen und Städten ja keine Cluster entstehen - ein Miniausbruch genügt, und schon ist man als Kader seinen Job los. Oft genügt ein einziger Fall, schon werden Schule und Kindergärten geschlossen, Massentests angeordnet. In wenigen Tagen müssen dann Millionen Chinesen zum Rachenabstrich. Um das Pensum zu schaffen, finden die Tests auf öffentlichen Plätzen, manchmal gar in Stadien statt. Im Labor werden dann immer zehn Proben auf einmal analysiert, um Zeit zu sparen. Gibt es ein positives Resultat, müssen alle noch einmal antreten.
Überhaupt ist die Kontaktverfolgung sehr breitflächig definiert. Hat etwa ein Infizierter einen Büroturm betreten oder ein Einkaufszentrum besucht, werden meist alle in Quarantäne geschickt, die am selben Tag am selben Ort waren. Das gilt auch für das Meishan-Terminal im Hafen von Ningbo, 150 Kilometer südlich von Shanghai gelegen, dem drittgrößten Containerhafen der Welt und ein Tor für chinesische Exporte wie Möbel, Haushaltswaren, Spielzeug oder Autoteile, die in die Vereinigten Staaten und Europa verschifft werden. Sieben Millionen Container werden jedes Jahr im Meishan-Terminal verladen. Seit dem 11. August steht die Anlage still, nachdem ein Arbeiter positiv auf Corona getestet wurde.
Ähnlich strikt hatten im Mai die Gesundheitsbehörden in der südchinesischen Metropole Shenzhen gehandelt und vorübergehend den Yantian International Container Terminal geschlossen. In Shenzhen werden normalerweise gut zehn Prozent der chinesischen Exportgüter verladen: Computer, Mikrowellen, Klimaanlagen. In den ersten zwei Juniwochen konnten insgesamt 298 Containerschiffe mit einer Kapazität von mehr als drei Millionen Containern Shenzhen nicht anlaufen. Der Schaden war größer als im Frühjahr der Stau im Suez-Kanal. Wie verheerend die Notabschaltung in Ningbo letztlich ausfällt, hängt davon ab, wann der Betrieb wieder anläuft.
Viele Unternehmen in Deutschland spüren die Auswirkungen der Krise
Die Auswirkungen sind jedoch bereits in Deutschland zu spüren: Materialengpässe und höhere Kosten machen vielen Firmen zu schaffen. Laut einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) unter fast 3000 Unternehmen klagen 83 Prozent über Preisanstiege oder Lieferprobleme bei Rohstoffen, Vorprodukten und Waren. "Die aktuelle Entwicklung kann den wirtschaftlichen Erholungsprozess nach der Krise merklich erschweren", meint DIHK-Außenwirtschaftschef Volker Treier. Drei Viertel der befragten Unternehmen haben mit Containermangel und fehlenden Frachtkapazitäten zu kämpfen. Die Teilschließung des Hafens in Ningbo erwischt die deutsche Wirtschaft in einer Zeit, in der sie ohnehin schon erhebliche Lieferschwierigkeiten bewältigen muss.
Der chinesischen Wirtschaft hat die Abschottung bislang nicht geschadet, im Gegenteil: Von April bis Juni wuchs die zweitgrößte Volkswirtschaft im Vorjahresvergleich um 7,9 Prozent. Zusammengerechnet lag das Wachstum im ersten Halbjahr bei 12,7 Prozent. "Im Allgemeinen hat sich die Volkswirtschaft im ersten Halbjahr stetig erholt", heißt es in der Mitteilung des Pekinger Statistikamtes. Die Behörde warnt allerdings auch vor einer ungleichmäßigen wirtschaftlichen Entwicklung im Land und vor unkalkulierbaren Auswirkungen der Pandemie in anderen Staaten. Für das Gesamtjahr 2021 geht die Weltbank in einer aktuellen Studie nun von einem Wachstum von 8,5 Prozent aus. Die chinesische Regierung ist vorsichtiger, Ministerpräsident Li Keqiang verkündete im März in seiner Eröffnungsrede vor dem Nationalen Volkskongress ein Ziel von "über sechs Prozent."
8,5 oder doch sechs Prozent? Die Führung in Peking hat einen ordentlichen Puffer im Zahlenwerk eingeplant, der Schließungen von Häfen und die Zwangsquarantäne von Millionen zulässt. Ein Ende der Abschottung ist derzeit nicht in Sicht.