Beschäftigte im Einzelhandel:Die Abgehängten

Lesezeit: 3 min

Der Einzelhandel floriert, Umsatz und Gewinn markieren einen Rekord. Doch die Löhne bleiben wegen der grassierenden Tarifflucht niedrig.

Von Michael Kläsgen und Thomas Öchsner, München/Berlin

Im Norden und im Süden der Republik streiken sie, die Beschäftigten des Einzelhandels, für höhere Löhne und sichere Arbeitsplätze. Gleichzeitig machen die Unternehmen so viel Umsatz und Gewinn wie seit Jahren nicht mehr. Die Deutschen sind dank geringer Arbeitslosigkeit und niedriger Zinsen in bester Kauflaune. Deutschlands Handelsverband (HDE) prognostiziert für diesen Sommer einen neuen Umsatzrekord. Der private Konsum, zu dem auch Reisen, Mieten und der Autokauf zählen, hat sich neben dem Export zum zweiten Standbein der deutschen Wirtschaft entwickelt.

Weniger gut sieht es jedoch bei den etwa drei Millionen Beschäftigten im Einzelhandel aus, von denen mehr als die Hälfte Minijobber oder Teilzeitbeschäftigte sind. Das zeigt die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken-Fraktion im Bundestag. Deshalb zieht die Branche bei den Löhnen nicht nach. Während in der Industrie die Löhne von 2007 bis 2016 um insgesamt 22,7 Prozent gestiegen sind, erhöhten sie sich im Einzelhandel in dieser Zeit nur um 14,4 Prozent. Immer mehr Beschäftigte arbeiten im Einzelhandel zu einem Niedriglohn, 2014 traf dies bereits auf fast jeden Dritten zu. Das hat vor allem einen Grund: In der Branche grassiert die Tarifflucht.

Wie die vom Bundesarbeitsministerium vorgelegten Zahlen zeigen, profitierten 2015 in Westdeutschland nur noch 38 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel von einem Tarifvertrag, den Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften abgeschlossen haben. 2012 waren es noch 41 Prozent. Noch düsterer sieht es im Osten aus: Hier fallen nur noch 26 Prozent der Arbeitnehmer im Einzelhandel unter einen Verbandstarifvertrag, mehr als 20 Prozent weniger als 2012. Deutlich höher ist die Tarifbindung quer durch alle Branchen. Nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gilt für etwa jeden zweiten Beschäftigten in Deutschland ein Branchentarifvertrag, wobei der Anteil im Osten in den vergangenen fünf Jahren stabil geblieben ist.

Ein Fischverkäufer in Berlin. Mehr als die Hälfte der Beschäftigten im Handel sind Mini-Jobber oder Teilzeitkräfte. (Foto: Thomas Peter/Reuters)

Der Einzelhandel ist also bei der Tarifflucht ganz vorne dabei. Thorsten Schulten, Leiter des WSI-Tarifarchivs in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, führt dies auf die "starke Lohnkonkurrenz in der Branche" zurück. Die Löhne in den nicht tarifgebundenen Unternehmen könnten um bis zu 30 Prozent unterhalb der Tariflöhne liegen. Das setze die Tarifbetriebe enorm unter Druck, ebenfalls aus den Tarifverträgen auszusteigen und weniger zu zahlen.

Vor der Jahrtausendwende war dies noch ganz anders: Ende der 1990er Jahre waren viele regional unterschiedliche Tarifverträge im Einzelhandel allgemein verbindlich. Alle Firmen in der Branche mussten dann Tariflöhne zahlen. Das ist heute nicht mehr üblich. In den Arbeitgeberverbänden des Einzelhandels tummeln sich heute viele Unternehmen ohne Tarifbindung, die kein Interesse mehr daran haben, dass Tarifverträge für alle und damit auch für sie gelten. Ohne die Zustimmung der Arbeitgeber im sogenannten Tarifausschuss kann das Bundesarbeitsministerium jedoch keine Tarifverträge für allgemein gültig erklären. "Das ist so, als würde man die Frösche fragen, ob man ihren Sumpf trocken legen darf", sagt Jutta Krellmann, gewerkschaftspolitische Sprecherin der Linken-Fraktion im Bundestag.

Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi hat eine Kampagne gestartet, damit wieder mehr Tarifverträge in der Branche allgemeinverbindlich erklärt werden. Doch dagegen sperrt sich der HDE. "Die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen ist kein Selbstzweck und sollte die Ausnahme bleiben", sagt HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth. Nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes bestehe hierfür kein Bedarf mehr.

Mit Klaus Gehrig, dem Chef der Schwarz-Gruppe (Lidl, Kaufland), widerspricht dem ein wichtiger Vertreter im HDE. Gehrig fordert eine gesetzliche Allgemeinverbindlichkeitserklärung. Damit sollen alle Unternehmen unabhängig von ihrer Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband zur Zahlung der Tariflöhne verpflichtet werden. "Dann haben wir alle gleiche Voraussetzungen", sagte Gehrig vor Kurzem und fügte hinzu: "Die Spreizung der Interessen in der Einzelhandelsbranche ist so groß, das kann und muss der Gesetzgeber lösen."

Gehrig traf deswegen in der Neckarsulmer Schwarz-Zentrale den Verdi-Bundesvorsitzenden Frank Bsirske und Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles. Gehrig will mit dieser Strategie explizit auch den rasant wachsenden US-Händler Amazon einbinden, der nach den Worten des Schwarz-Chefs "eine Tarifbindung sonst nicht akzeptieren" würde.

Die Konkurrenz vermutet hinter dem Vorstoß des obersten Lidl- und Kaufland-Bosses aber den trickreichen Versuch, Supermärkten wie Edeka und Rewe schaden zu wollen. Diese hätten dann bis zu dreimal so viel Personal in den Läden als die Discounter und entsprechend höhere Kosten, wenn eine Allgemeinverbindlichkeit zur Pflicht würde, sagt ein Edeka-Sprecher. Edeka gilt als einer der wichtigsten Bremser in den Verhandlungen. Der Sprecher betont deswegen, dass knapp die Hälfte aller 11 224 Läden unter dem Edeka-Dach (darunter alle Netto-Filialen) in der Tarifbindung seien. Bleiben jedoch die selbstständigen, tarifungebundenen Kaufleute.

Schützenhilfe erhalten sie indirekt von HDE-Chef Genth. Die Tarifbindung erhöhe sich nicht, indem staatlicher Zwang ausgeübt werde, sagt er, sondern dadurch, dass den Unternehmen zeitgemäße und praktikable Tarifverträge angeboten würden. Die Branche habe sich bei den Ladenöffnungszeiten und dank des technologischen Fortschritt weiterentwickelt. Dem müsse Rechnung getragen werden.

Experte Schulten von der Hans-Böckler-Stiftung hält die Tarifverträge ebenfalls für veraltet und sagt: "Der Einzelhandel braucht eine Lohnstrukturreform. Ohne diese wird es wahrscheinlich auch nicht dazu kommen, dass Verträge wieder allgemeinverbindlich erklärt werden." Nur: Bislang sind alle Versuche einer Einigung gescheitert. Unwahrscheinlich, dass es ausgerechnet vor der Bundestagswahl klappt.

© SZ vom 09.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: