Augsteins Welt:Kapitalismus: ein Spiel

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An dieser Stelle schreibt künftig jeden zweiten Freitag Nikolaus Piper. (Foto: Bernd Schifferdecker)

Der Kapitalismus ist in der Krise. Auch seine Anhänger sind besorgt. Das ist nicht nötig. Diese Wirtschaftsform wird alles überleben. Sie sollte allerdings reformiert werden.

Von Franziska Augstein, Berlin

Die ganze Chose findet sich in dem Brockhaus-Lexikon "Wirtschaft" von 2008 recht gut zusammengefasst: "Im Kapitalismus werden die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse vor allem von den Interessen derer bestimmt, die als Unternehmer über das Sach- und Finanzkapital verfügen. Konstitutiv für den Kapitalismus ist weiterhin der unbeschränkte, vom Gewinnstreben angetriebene Wettbewerb zwischen den Unternehmen, die auf dem Markt in Konkurrenz um die Nachfrage nach ihren Produkten treten."

Hinzuzufügen ist, mit dem Sozialhistoriker Jürgen Kocka gesprochen, dass halt das Kapital im Kapitalismus "zentral" ist, "und damit verbunden, ein wirtschaftliches Verhalten mit einer bestimmten Temporalstruktur: Man benutzt Ressourcen der Gegenwart für Investitionen in der Erwartung größerer Vorteile in der Zukunft, ( ...) Wandel, Wachstum und Expansion sind dieser Form des Wirtschaftens eingeschrieben, jedoch in unregelmäßigen Rhythmen, in Auf- und Abschwüngen, unterbrochen durch Krisen".

Viel ist in den vergangenen Jahren über ein mögliches Ende des kapitalistischen Systems diskutiert worden. Das ist Mumpitz. Der Kapitalismus ist überlebensfähig wie eine Kellerassel, ein Insekt, das Biologen zufolge nach einem weltweiten Atomkrieg lebendig übrig bleiben würde.

Karl Marx hatte seine Kapitalismuskritik auf Hegel und dessen Idee von Dialektik aufgebaut. Simpel gesagt, ist das so: Eine Sache wird so lange fortgetrieben, bis sie, eben weil sie funktioniert, die ihr innewohnenden Widersprüche gebiert und zum Wirken bringt. Dann kippt alles um und wird neu sortiert. Marx meinte, der Kapitalismus werde abgelöst und in eine Herrschaft aller für alle münden. Diese Annahme war falsch: Der Kapitalismus erneuert sich von selbst und in sich selbst. Der Ökonom Joseph Schumpeter (1883 bis 1950) sprach von "kreativer Zerstörung". Heute wird - weil das aus dem amerikanischen Englisch übernommen ist und daher schicker klingt - von "Disruption" geredet.

Die Kritik am Kapitalismus ist typisch für Europa

Die Globalisierung hat den Kapitalismus in die Bredouille gebracht: Es ist mittlerweile verbreitete Ansicht - nicht die Gewerkschaften, sondern die Corona-Viren machten es möglich -, dass die Verlagerung von Arbeitsplätzen in Länder, wo Hungerlöhne gezahlt werden, von den Unternehmen der wohlhabenden Länder überdacht werden muss.

Dem Kapitalismus wird das nicht schaden, der floriert immer. Um abermals Jürgen Kocka zu zitieren: Der Kapitalismus sei unter allen möglichen Regierungsformen möglich, "in demokratischen wie in autoritären und diktatorischen Herrschaftssystemen". Der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe sieht das ähnlich: Mit Kapitalismus lasse sich "das Regelwerk eines bestimmten Spiels bezeichnen, das nicht ein für alle Mal feststeht, sondern sich im Laufe der Zeit entsprechend der jeweiligen technischen Möglichkeiten, der normativen Vorstellungen und der institutionellen Zwänge ändert, auf jeden Fall ändern kann, vielleicht sogar ändern muss."

Ändern muss sich der Kapitalismus in der Tat. Es geht nicht an, dass die von der Produktion sichtbarer, anfassbarer Waren abgekoppelte Finanzwelt zunehmend das Wirtschaftsgeschehen bestimmt. Unerträglich ist die Gefahr für börsennotierte Unternehmen, dass Wetten auf den Fall des Werts ihrer Aktien lukrativ sein können. Schon gleich gar nicht tolerabel ist, dass erfolglose Manager ein Unternehmen vor die Wand fahren können und dafür auch noch prächtig entlohnt werden. Letzteres läuft übrigens dem Selbstverständnis gestandener Kapitalisten aller Jahrhunderte zuwider. Man geht ein Risiko ein, man investiert, man hat beim Aufbau eines Unternehmens vielleicht manch schlaflose Nacht, man beutet die Arbeiter aus; wenn alles glatt läuft, darf man reich werden und kann sich guten Gewissens des Sonntags in die vorderste Bank in der Kirche setzen: Alles das gehört zum Kapitalismus. Dass aber ein Unternehmen sich vom Staat und also den Steuerzahlern nach erwiesener Unfähigkeit des eigenen Managements oder schlicht wegen Pech-gehabt vor der Insolvenz retten lässt, einfach bloß, weil der Konzern zu groß geworden ist, als dass er zusammenklappen dürfe, hat mit dem herkömmlichen kapitalistischen Grundverständnis nichts zu tun.

Jürgen Kocka, der den Kapitalismus studiert hat, wie früher nur dessen Gegner es taten, hat eine interessante Beobachtung gemacht: "Die enge Verbindung von Aufstieg und Kritik des Kapitalismus" sei vor allem "ein Phänomen der europäischen Geschichte". Seit Jahrzehnten kommt in Europa an, was in den USA ersonnen und für modern gehalten wird. Derzeit laufen eine kurzfristige und eine langfristige Entwicklung zusammen: Der Euro wird im Vergleich zum Dollar immer stärker. Das hat mit Trumps Regentschaft zu tun und mit der Politik der amerikanischen Federal Reserve Bank, die die Inflation in die Höhe schießen lässt, weil sie anders der immensen Staatsverschuldung und den wirtschaftlichen Problemen des Landes nicht zu begegnen weiß.

Die andere Entwicklung ist dauerhafter. In dem Maße, da die weltweite Ungleichheit als Problem erkannt worden ist, gibt es konventionelle, amerikanische Wirtschaftsfachleute, in deren Augen die Vereinigten Staaten nicht mehr als Lehrmeister dastehen. Anne Case und der Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton argumentieren in ihrem Buch über "die Zukunft des Kapitalismus" ("Deaths of Despair", Princeton, 2020), dass viele europäische Länder mit der Einrichtung des Wohlfahrtsstaats nach 1945 es besser gemacht hätten als die Amerikaner. Die europäische Kapitalismus-Kritik: Sie hat sich am Ende ausgezahlt!

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