Augsteins Welt:Der Mantel

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An dieser Stelle schreibt künftig jeden zweiten Freitag Nikolaus Piper. (Foto: Bernd Schifferdecker)

Wer seinen halben Umhang verschenkt, muss darob nicht frieren. Die kalte Jahreszeit beginnt mit dem Sankt-Martins-Tag, und mit ihm beginnt der Karneval. Eine Abschiedskolumne.

Von Franziska Augstein

Die fünfte Jahreszeit naht: Ursprünglich begann sie am 6. Januar, dem Tag der drei Könige. Im 19. Jahrhundert gelang es dem feiersüchtigen Volk, den Anfang auf den 11.11. vorzuziehen. Die Ernte war eingebracht, ob sie genüge, um locker über den Winter ins Frühjahr zu kommen, war nicht immer gewiss. Die Fastenzeit würde noch früh genug kommen, warum also nicht gleich die Monate der Brache zur Karnevalszeit machen?!

Wie nun aber benimmt man sich anständig bei Tisch, zu Karnevalszeiten und überhaupt? Der Anwalt, Kaufmann, Theaterkritiker, Schriftsteller und Gutsherr Alexandre Balthazar Laurent Grimod de la Reynière (1758 bis 1837) hat bestechend klare Vorschläge gemacht. Sein deutscher Zeitgenosse Adolph Knigge, wenn er ihn getroffen hätte, wäre entzückt gewesen.

Der Schlendrian ist der Feind des Gastgebers. Wie mit Gästen verfahren, die sich nicht bequemen, auf eine Einladung zu antworten? Man häuft schließlich eine ganze Menge Mühe auf sich und kann ja schlecht die Martinsgans vorbeiflattern lassen mit der Petschaft am Hals, ob es denn nun passe oder nicht. De la Reynière war streng: "Gibt der Geladene binnen vierundzwanzig Stunden keine Antwort, so gilt sein Schweigen für Zusage." Der "Gipfel der Unhöflichkeit" sei es, dem Gastgeber "unnütze Kosten" aufzuhalsen. "Schwere Krankheit, Kerker oder Tod", so de la Reynière, "sind die einzigen annehmbaren Entschuldigungen, und dann muss noch die Bescheinigung des Arztes, das Verhaftungsprotokoll oder der Totenschein dem Gastgeber vorschriftsmäßig mitgeteilt werden." Wer nicht auftauche ohne eine dieser Entschuldigungen, habe eine deftige Entschädigung zu zahlen.

De la Reynière, obgleich sehr wohlhabend, kam heil durch die Französische Revolution. So konnte er danach seine "Grundzüge des gastronomischen Anstands - Küchenkalender" veröffentlichen. Er riet davon ab, Lakaien hinter dem Stuhl eines jedes Gastes stehen zu lassen. Dies nicht aus Personalersparnisgründen, sondern weil man sich nicht ordentlich unterhalten könne, wenn jemand zuhöre: Dieser Satz bezeichnet den Unterschied zwischen dem Ancien Régime, da die Domestiken als wandelnde, nützliche Möbelstücke betrachtet wurden, und dem bürgerlichen 19. Jahrhundert. Der Feinschmecker und Anstandsspezialist schrieb denn auch: "Die Gegenwart der Lakaien hat noch einen anderen Nachteil: Sie ist sozusagen ein Protest gegen die Dauer des Mahles, dessen Länge diese Leute innerlich von Herzen verwünschen."

Was damals an Mengen in großen Haushalten aufgetischt wurde, konnten nur geübte Esser verkraften - und das auch bloß auf Zeit. Adalbert Stifter war nicht der Einzige, der seine Leber und sein Leben mit fünf warmen Mahlzeiten pro Tag zur Kapitulation bewog. Im schwedischen Malmö gibt es ein "Museum abstoßenden Essens". Das lehrt: Selbst kleine Portionen können zum Reihern bringen. Am Eingang erhalten die Besucher eine Kotztüte. Inwieweit das mit dem klugen Ziel kompatibel ist, auf fremde Kulturen einzustimmen, müssen die Kuratoren wohl noch klären.

Dem heiligen Martin war der Puter, was dem heiligen Lukas der Ochse

Für den November empfahl de la Reynière: Der Puter, andere nennen ihn Truthahn, sei das Tier des heiligen Martin, so wie dem heiligen Lukas sein Ochse. "Der Puter ist der unerlässliche Braten am 11. November." Weiter schrieb de la Reynière: "Katholiken, Lutheraner, Calvinisten, Quäker, Anabaptisten, Presbyterianer, schismatische oder unierte Griechen, kurzum, alle christlichen Sekten" würden in ihrem Lobpreis auf den Puter und auf den heiligen Martin übereinstimmen. Was tat der heilige Martin, der dritte Bischof von Tours, bevor er ein Kloster gründete? Er war zuvor Soldat gewesen, zu seiner Ausstattung gehörte ein aus Fellen zusammengenähter Umhang. Als Martin eines Armen ansichtig ward, soll er die Hälfte seines Umhangs abgerissen und dem Darbenden gegeben haben. Martin blieb darunter nicht nackig, er gab bloß die Hälfte seiner äußeren Wärme weg. Diese Geschichte: Sie ist zu schön, um wahr zu sein. Sie ist kitschig, zeugt aber von moralischer Bravour, die heute allen wohlhabenden Ländern gegenüber den ärmeren zum Beispiel dienen könnte.

Im vergangenen Juli hat der Philosoph Alexander Grau in der Neuen Zürcher Zeitung einen Artikel über "Gefühlsduselei" publiziert. In der Politik, so Grau, müsse "an Gefühle appelliert" werden: "Kitsch in der Politik ist unvermeidbar. Wer meint, mit rein rationalen Argumenten und kühler Sachlichkeit einen Wahlkampf zu gewinnen, der hat ihn schon verloren." Umso schwerer wiegt das Joch auf den Rücken verantwortungsbewusster Konzernleiter und Fondsmanager: Sie müssen, durchaus angetrieben von Investoren, die sich mit widerlichen Arbeitsbedingungen in fernen Ländern, dem Klimawandel, dem Artensterben nicht abfinden wollen, zu erreichen helfen, was die dem Kitsch - und damit auch der unverbindlichen Laberei - verpflichteten Politiker ohne ihre Hilfe nicht umsetzen könnten. Der Klimawandel ist übrigens nicht das einzige der Umweltprobleme: Die Verschmutzung der Ozeane mit Plastik, je winziger, desto schlimmer, kommt hinzu. Die weltweite Bodenverseuchung desgleichen.

Franz Joseph I., der letzte Kaiser der österreichischen k.-und-k.-Monarchie, starb 1916. Einmal in seiner langen Regentschaft hat er gesagt: "Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut." Das war nicht kitschig, das war bloß nett gemeint und doof, weshalb der Satz zu einem geflügelten Wort wurde. In der Hoffnung, am Ende ein wenig Information gegeben zu haben, möge sie Einzelnen mitunter zu nett oder zu doof vorgekommen sein, verabschiedet sich die Kolumnistin nach viereinhalb Jahren von ihren Lesern. Grimod de la Reynière, beiläufig gesagt, schrieb mit Bezug auf den 11. November: "Der Martinstag ist wirklich das Fest der guten Tafel."

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