Amazon:Die Lawine rollt

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Illustration: Stefan Dimitrov (Foto: SZ)

Das Internet-Kaufhaus Amazon ist mit seiner Tochterfirma für Speicher-Dienstleistungen der Konkurrenz weit enteilt.

Von Jürgen Schmieder, Las Vegas

Wer ganz oben auf einem Berg steht und einen Schneeball in der Hand hält, kann sich überlegen, was er damit anstellen möchte. Er kann durch einen gezielten Wurf auf die weiter unten positionierten Konkurrenten eine spannende Schlacht initiieren, er kann ihn aber auch in Richtung Tal rollen und darauf hoffen, dass aus dem kleinen Ball eine gewaltige Kugel oder gar eine Lawine wird, die sämtliche Feinde nach unten reißt. Vielleicht ist es Zufall, dass Amazon Web Services (AWS) eine seiner neuesten Entwicklungen "Snowball" getauft hat. Vielleicht aber auch nicht. "Es war das Codewort der Entwickler", sagt AWS-Chef Andy Jassy: "Wir haben uns daran gewöhnt, es hat uns gefallen - also haben wir es verwendet."

Das Tochterunternehmen von Amazon ist die womöglich bedeutendste Firma der Welt, von der bis vor wenigen Monaten nur Experten gehört hatten. Im April tauchte der Anbieter von Cloud-Plattformen und anderen Internet-Dienstleistungen - obwohl bereits 2006 gegründet - mit Einnahmen von 1,57 Milliarden US-Dollar zum ersten Mal in den Konzern-Quartalszahlen auf. Amazon-Chef Jeff Bezos sagte beim anschließenden Gespräch mit Experten gar, dass er daran glaube, dass AWS eines Tages der bedeutendste Bereich des gesamten Konzerns sein würde.

Bezos verkündete bei der Gelegenheit auch, dass er nicht nur einen Schneeball in der Hand halte, sondern ganz oben auf dem Berg stehe: Eine Million AWS-Kunden gibt es mittlerweile, dazu gehören nicht nur Start-ups wie Pinterest, Airbnb und Spotify, sondern auch gestandene Unternehmen wie Disney, Shell oder Capital One. "Wir wachsen viel schneller, als wir es geplant haben - und wir waren schon viel zuversichtlicher als der Rest der Branche", sagt Jassy: "Unsere Run Rate liegt bei 7,3 Milliarden Euro pro Jahr." Diese Zahl beschreibt, wo die Einnahmen eines Jahres liegen würden, wenn man das Ergebnis des vergangenen Quartals unverändert fortschreiben würde. Das lag im zweiten Jahresviertel bei mehr als 1,8 Milliarden Dollar, das ist eine Steigerung von mehr als 80 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal. Jassy will jedoch, das wurde auf der Hausmesse Re:Invent in Las Vegas deutlich, keineswegs nur das vergangene Quartal fortschreiben. Er will AWS weiter rasant wachsen und die Daten möglichst vieler Unternehmen in die Cloud seines Unternehmens wandern lassen.

Die Kunden müssen große Datenmengen nicht zeitraubend über das Internet hochladen

Deshalb stellte er in der vergangenen Woche diese graue Box mit dem Namen "Snowball" vor, auf die 50 Terabyte an Daten geladen werden können. Ein Paketdienst liefert sie dann an Amazon. Somit müssen die Kunden große Datenmengen nicht zeitraubend über das Internet hochladen, sondern können die Box befüllen und diese dann an Amazon schicken. Insgesamt kann ein Unternehmen damit ein Petabyte pro Woche in die Cloud übertragen - was noch vor wenigen Jahren mehrere Monate dauerte, ist nun eine Sache von Tagen. "Die meisten anderen Unternehmen haben ihren Willen zur Innovation verloren", sagte Jassy selbstbewusst, er zeigte dabei nicht zufällig ein Bild von Oracle-Gründer Larry Ellison und stellte Produkte vor, mit denen Kunden von der Oracle-Cloud zu Amazon wechseln können: "Wir versuchen, zu unseren Kunden ein Verhältnis aufzubauen, das uns alle überleben wird."

Unter solchen Größenordnungen machen es viele nicht, die auf hauseigenen Messe wie der in Las Vegas auftreten. Neben spannenden Debatten über das Internet der Dinge, den Transport der Zukunft und das Datenvolumen von Streaming-Portalen (Netflix benötigte an einem Tag einmal 37 Prozent des kompletten Internet-Volumens) war die vier Tage dauernde Veranstaltung vor allem eine Beweihräucherung von AWS: ein Manager namhafter Unternehmen wie General Electrics, McDonald's oder Capital One nach dem anderen betrat die Bühne und erklärte brav, wie großartig die Zusammenarbeit mit AWS doch sei, dass man einen Großteil der eigenen Datenzentren nun schließen könne und sich schon auf viele weitere Jahre in der Amazon-Cloud freue. Meistens war das extrem nervig.

Höchst interessant dagegen war, welche Innovationen AWS verkündete und damit andeutete, die führende Position verteidigen zu wollen - gleichzeitig aber noch andere lukrative Geschäftsfelder für sich entdeckt zu haben. Für den Bereich der Business Intelligence etwa wurde das Modul "Quicksight" vorgestellt. Das soll die vorhandenen Daten eines Unternehmens analysieren und mundgerecht in Grafiken aufbereiten und darstellen. Doch damit nicht genug: Mit einem weiteren Projekt, derzeit noch in der Beta-Phase, wendet sich das Unternehmen auch dem Internet der Dinge zu. Es gibt außerdem die App-Services Mobile Hub und Inspector, auf der Plattform Handmade at Amazon sollen Bastler ihre selbst gefertigten Produkte feilbieten können.

AWS, das wurde in der vergangenen Woche deutlich, ist keineswegs mehr die bedeutendste Firma der Welt, von der kaum jemand gehört hat und das mit einem kleinen Schneeball irgendwo auf einem Berg herumsteht. Es will das führende Unternehmen für Internet-Dienstleistungen sein. AWS hat Cloud-Konkurrenten wie Salesforce, Microsoft und IBM einen dicken Schneeball ins Gesicht geworfen und angedeutet, die führende Position keineswegs aufgeben zu wollen. Doch noch viel mehr: AWS droht auch Internet-of-Things-Giganten wie Cisco oder Google, Streamingportalen wie Netflix und auch der Do-it-yourself-Seite Etsy. Und wer Amazon kennt, weiß, dass da eine gewaltige Lawine auf sie zukommen wird.

© SZ vom 14.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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