Kolumne "Eigener Herd":Sommerliche Winterfrische

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Winterfrische: Orangen lassen sich als Carpaccio fast endlos kombinieren, ob mit Rote Bete und Parmesan, mit Haselnüssen oder Sardellen. (Foto: Sandra Roesch/imago images/Westend61)

Bei Carpaccio geht es immer seltener um rohes Rindfleisch, der italienische Klassiker schmeckt auch großartig mit Obst und Gemüse. Zum Beispiel mit Orangen, die gerade Hochsaison haben.

Von Marten Rolff

Es ist fast 75 Jahre her, dass in Venedig das Carpaccio erfunden wurde. Und auch wenn man das - noch dazu etwas krumme - Jubiläum eines Rezepts nicht groß feiern muss, so ist eine Rückschau in diesem Fall interessant. Denn 75 Jahre sind für ein Gericht ja kein Alter, und es gibt wenige Teller, die quasi aus dem Stand derart emblematisch geworden sind, um sich dann im Eiltempo vom Rezept zum kulinarischen Prinzip zu emanzipieren.

Das liegt natürlich auch an der Einfachheit dieses Gerichts: ein paar hauchdünn geschnittene Scheiben rohes Rinderfilet, wenige Tropfen Olivenöl und/oder Zitrone, Rucolablätter und Parmesanspäne, eventuell etwas Pfeffer - fertig. Das ist eine Anordnung, die sich leicht variieren lässt, und Profis wie Laien haben davon ausgiebig Gebrauch gemacht. Vor allem in der neuen Gemüseküche erlebt Carpaccio ein Revival nach dem anderen, auf Abwandlung folgt Abwandlung. Kochbücher der aktuellen Saison strotzen nur so vor "Carpaccio"-Rezepten, die mit dem Original - abgesehen von ein paar Spritzern Öl - keine Zutat mehr gemein haben.

Wer würde zum Beispiel bei dünn gehobeltem Fenchel mit Zitronensaft, Olivenöl, Meersalz und in heißem Balsamico marinierten Pflaumen (großartige Kombi übrigens!) an die intensiven Rottöne des venezianischen Renaissancemalers Vittore Carpaccio denken, nach dem das Gericht wegen des rötlichen Rinderfilets benannt ist? Ersonnen wurde dieser Marketing-Coup - man muss fast sagen: natürlich - von Giuseppe Cipriani, der mit der Eröffnung von "Harry's Bar" einst zum wichtigsten Vertreter des venezianischen Gastroadels aufstieg und eine Familiendynastie begründete, die heute in dritter Generation geführt wird. Als genialer Storyteller machte Cipriani es zu einem seiner Markenzeichen, neue Kreationen nach venezianischen Malern zu benennen (eine andere Erfindung ist der Pfirsichcocktail "Bellini"). Das kam an, in den Fünfzigerjahren entdeckte der Jetset Harry's Bar für sich. Dazugehörige Hashtags: Hemingway, Barlegende, Dosencocktail-Produktion.

Erfunden wurde das Carpaccio, weil eine venezianische Contessa Fleisch nur roh vertrug

Das Carpaccio hat Cipriani angeblich erfunden, weil ein Arzt seiner berühmten Stammkundin Contessa Amalia Nani Mocenigo davon abgeraten haben soll, gegartes Fleisch zu essen (warum auch immer, es geht hier ja eh nur um Marketingmythen). Im Originalrezept wurde das Filet mit frischen Trüffeln und einer Spezial-Mayonnaise mit Weinessig, Senfpulver, Worcestershiresauce und Milch serviert. Dass heute kaum noch einer diese Ursprungsversion verlangt, muss die Ciprianis ebenso wenig kümmern wie die Tatsache, dass manche Venezianer Harry's Bar als Touri-Ding schmähen. Irgendein Rezept erfinden können schließlich viele, aber ein kulinarisches Prinzip erschaffen, das sich weltweit verselbständigt - das ist die Königsdisziplin. Und dass es viele artverwandte Gerichte (Ceviche) gibt, die lange vorher da waren? Geschenkt.

Carpaccio funktioniert mit Lachs und rotem Pfeffer genauso wie mit Bündner Fleisch, Gurke, Amalfizitrone oder Blumenkohl. Mit Mayonnaise wie mit Vinaigrette. Es steht gleichermaßen für Snobismus und Weltläufigkeit wie für Tradition und italienische Bodenhaftung. Für alles irgendwie dünn Geschnittene, das schmeckt. Denn damit ein derart schlichtes Gericht gelingt, muss man sich auf das Wesentliche konzentrieren, müssen alle Zutaten von höchster Qualität sein.

Auf die Spitze treibt diese Reduzierung ein Rezept aus dem schönen Kochbuch "Granatapfel & Artischocke" von Saghar Setareh: 2 sauber geschälte und dünn aufgeschnittene Orangen, auf denen man sechs eingelegte (kurz kalt abgespülte) Sardellenfilets und 2 EL bestes Olivenöl verteilt. Eine "Liebeserklärung an Sizilien" nennt die Autorin ihr Carpaccio. Ein völlig unvenezianisches Rezept. Unendlich wandelbar. Und perfekt für den Orangenmonat Januar. Schließlich steht auch das Olivenöl der neuen Ernte gerade frisch in den Regalen.

Das braucht man dazu

- 2 besonders aromatische Orangen

- 6 eingelegte Sardellenfiltes

- 2 EL besonders hochwertiges Olivenöl

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