Sie wollen sich entspannen? Weg vom Bildschirm oder von der aufreibenden Welt da draußen, und einmal ganz bei sich sein? Vergessen Sie Yoga. Statt zu Matte und Block geht der Trend jetzt zu Malbuch und Buntstiften. Für einen Baum bedarf es keiner Balance auf einem Bein mehr, sondern nur ein paar lockerer Stiftschwünge aus dem Handgelenk. Stamm, Äste, Blätter, vielleicht fliegt gerade ein Schmetterling vorbei. Und vielleicht hat der Schmetterling einen kleinen Freund. . .
Was sich nach Bob Ross anhört, dem Mann mit dem Minipli, der dem Fernsehpublikum in den Achtzigerjahren die kontemplative Pinselsendung "The Joy of Painting" schenkte, ist ein neues Mal-Phänomen. Nur dass es diesmal nicht um Bergseen auf Leinwand geht, sondern um Blumenranken auf Papier.
Heimliches Ausmalen in den Büchern der Kinder
Die Schottin Johanna Basford führt mit ihrem Erwachsenen-Malbuch "Mein verzauberter Garten" die britische Amazon-Bestsellerliste an. Auf Platz zwei steht ihr Nachfolgewerk "Mein Zauberwald". Das Prinzip ist beide Male das gleiche: Florales, viele Blätter, ein paar Tiere, dazwischen seitenfüllende Mandalas und das ein oder andere Märchenschloss. 1,4 Millionen Exemplare ihres Malbuch-Debüts hat Basford einem Bericht des britischen Guardian zufolge weltweit verkauft. Der "Zauberwald", der erst seit Februar auf dem Markt ist, dürfte das noch übertreffen.
"Von dem riesigen Erfolg der Bücher war ich selbst am meisten überrascht", sagt Basford. Zwar habe es schon immer Leute gegeben, die sich abends, wenn die Kinder im Bett waren, deren Malbücher schnappten und drauflos kritzelten. Aber das sei eine Art "Untergrund-Szene" gewesen, scherzt die 31-Jährige, die vor ihrem Aufstieg zu Großbritanniens Malbuch-Königin als freie Illustratorin tätig war.
Bis zum Schluss war sie unsicher, ob ein Malbuch für Erwachsene überhaupt jemanden interessieren würde. Aus Angst vor einem Misserfolg wäre sie beinahe von dem Buchvertrag zurückgetreten. Dann hat sie sich doch getraut. "Ich wollte einfach ein hübsches Buch machen, das ich mir selbst in den Schrank stellen würde und habe gehofft, dass es noch ein paar anderen Leuten gefällt", sagt Basford. Jetzt kämen die Verleger in Europa und den USA der riesigen Nachfrage kaum mehr hinterher.
Motive von Ryan Gosling verkaufen sich schon länger gut
Ganz aus dem Nichts kommt der Erfolg natürlich nicht. Schon seit geraumer Zeit gibt es Malbücher zu Fernsehserien wie "Game of Thrones", Malbücher, bei denen man Ryan Goslings blaue Augen und Beyoncés Karriereweg kolorieren kann, und in Deutschland liegt in jeder Buchhandlung und jedem Scherzartikelladen "Mach dieses Buch fertig" von US-Autorin Keri Smith. 192 Seiten, die bemalt, zerrissen, angezündet und aus dem Fenster geworfen werden wollen. Einzeln, versteht sich, es soll ja niemand verletzt werden.
Solche Bücher passen ganz gut zur Do-it-yourself-Generation. Zu Großstädtern, die sich in Volkshochschulkursen beibringen lassen, wie man Honigbienen hält und Marmelade einkocht. In Bastelshops gibt es fertige Näh-Kits für Jutebeutel und Stoffhasen. In diese Richtung stößt auch das Ausmalen: Kolorieren erlaubt Kreativität ohne Begabung. Niemand wird mit einem weißen Blatt Papier allein gelassen, alles ist vorgezeichnet. Verlieren kann nur, wer über den Rand malt.
"Malen Sie sich Ihren Weg zu Frieden und Ruhe"
Zum Massenphänomen wurde die Sache mit dem Ausmalen jedoch erst, als ein paar schlaue Marketingmenschen die richtige Verkaufsmasche fanden. Und wie könnte die in Zeiten des stressgeplagten Menschen, der ständig nach neuem Ausgleich sucht, anders aussehen, als das Versprechen auf meditative Entspannung?Auf Loslassen und Runterkommen?
"Seit wir die Bücher als Anti-Stress-Mittel verkaufen, sind sie der Renner", sagte Ana McLaughlin in einem Gespräch mit dem Guardian. McLaughlin ist Marketing-Chefin des Londoner Verlags Michael O'Mara, der mit seinen Büchern den Erholungsansatz auf die Spitze treibt. Hier ist das "Art Therapy Colouring Book" von Richard Merritt erschienen. Die Motive sind denen Johanna Basfords nicht unähnlich: Tiere, Pflanzen, Fantasiemuster. Auf dem Cover wird der potenzielle Käufer aufgefordert, seine Kreativität gegen den Stress einzusetzen. Im Klappentext heißt es: "Nehmen Sie sich ein paar Minuten, wo auch immer Sie sind und malen Sie sich Ihren Weg zu Frieden und Ruhe."
Wissenschaftliche Belege für die positive Wirkung der Malbücher gibt es nicht. Man mag besser einschlafen, wenn man nach zehn Uhr abends nicht auf einen Bildschirm, sondern in ein Malbuch starrt. Man mag davon auch weniger schnell Kopfschmerzen bekommen. Aber das trifft auch auf andere Dinge zu. Auf Löcher in die Luft gucken zum Beispiel. Oder eben auf Yoga.
Immerhin, wer gerne ausmalt, einfach so, weil es ihm Spaß macht, braucht nun nicht mehr seine Kinder als Vorwand. Er ist Teil einer internationalen Bewegung. "Ausmalen ist jetzt sozial akzeptiert", sagt Illustratorin Basford. Muss man sich schließlich erst mal trauen: eine Verabredung absagen, weil man lieber mit einem Paket Buntstifte zu Hause sitzt und Amseln im Blätterwald ausmalt.