Navigation auf See:Kommt Zeit, kommt Längengrad

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Das "Scilly naval disaster" im Jahr 1707 machte ein riesiges Problem offenbar: Schiffsleute konnten ihre eigene Position auf dem Meer nicht bestimmen.

Von Bernd Graff

Am 22. Oktober 1707 sank die 50 Meter lange HMS Association, ein mit 90 Kanonen bestücktes Kriegsschiff der britischen Marine. Ein absoluter Schock! Die Association war im Spanischen Erbfolgekrieg im Mittelmeer gegen die Franzosen eingesetzt gewesen. Sie befand sich bestens ausgestattet und unbeschädigt auf dem Weg nach Hause. Und sie beschiffte längst heimische Gewässer, als sie den "Outer Gilstone Rock" vor den "Isles of Scilly" an der Südwestspitze Cornwalls rammte. 800 Soldaten, darunter Admiral Cloudesley Shovell, kamen in weniger als vier Minuten ums Leben, außer dem Flaggschiff havarierten drei weitere Schiffe, insgesamt starben fast 2000 Menschen. Es war die schlimmste Seekatastrophe ihrer Zeit, erinnert wird sie als das "Scilly naval disaster" von 1707. Wie konnte sie nur geschehen?

Obwohl die Navigatoren der "HMS Association" über modernste Karten verfügten, hatten sie die Orientierung verloren, sie waren dem heimischen Hafen tatsächlich viel näher gewesen als berechnet. Einer der Überlebenden gab damals zu Protokoll: "We were much to ye Northward of what was expected, and likewise more to the Eastward." Also weit nördlicher und östlicher als erwartet. Was, wenn man aus dem Süden vom Atlantik kommend in den Ärmelkanal einbiegt, eben dazu führt, dass man sehr bald auf den soliden Fels der britischen Heimat aufläuft.

Diese Havarie war nicht individuellem Versagen geschuldet, sie resultierte aus einem lange bekannten Navigationsproblem. Philipp III. von Spanien hatte schon 1598 eine lebenslange Rente als Preis für dessen Lösung ausgesetzt, großartige Mathematiker wie Galileo, Leibniz und Newton hatten sich daran versucht.

Es ging um Klärung dieser Frage: Wie bestimmt man auf offenem Meer die eigene Position nach Längengraden? Es war die ungelöste maritime Menschheitsfrage.

Heute mag die Rechnung banal wirken

Um sich auf See zu orientieren, hatten Schiffe bis in die Neuzeit hinein lediglich die Sterne als Orientierungsmarken. Die Erde dreht sich unter ihnen weg. Nur der Polarstern bleibt in gedachter Verlängerung der Erdachse immer an derselben Stelle. Ein Beobachter am Nordpol hat ihn exakt über sich, am Äquator steht er genau am Horizont. Anhand des Polarsterns kann man berechnen, auf welchem Breitengrad man sich befindet.

Die Ordnung der Breitengrade, der Ringe um die Erde, gehorcht kosmischer Gesetzmäßigkeit und Physik, die der Längengrade, der kartografischen Streifen, ist dagegen reine Definitionssache.

An allen Orten, die auf derselben Länge liegen, ist zur selben Zeit Mittag, darum heißen sie Mittagslinien oder Meridiane. In Krakau ist zur selben Zeit Mittag wie in Kapstadt, doch in München eine Stunde später als in Kiew. Erst, wenn man die Zeitdifferenz zwischen der eigenen und der Normalzeit auf dem Nullmeridian berechnen kann - für uns definiert ist die Greenwich-Time -, ist man in der Lage, sich westöstlich zu orientieren. Ein Meridian-Unterschied von einem Grad sorgt für eine Mittagsverschiebung von vier Minuten. Am Äquator bedeutet eine solche Ein-Grad-Verschiebung eine westöstliche Positionsveränderung von über 110 Kilometern. Wenn sich der Höchststand der Sonne im Vergleich zur Standardzeit um eine Stunde verzögert, hat man sich um 15 Grad nach Westen bewegt oder - am Äquator - um 1650 Kilometer.

Doch die heute banal erscheinende Berechnung der Differenz von zwei Uhrzeiten war den Havaristen nicht möglich. Auf ihren dem Seegang ausgelieferten Schiffen konnten sie mit den verfügbaren Pendeluhren keine Zeit messen. Man wusste zwar genau, wann die Mittagsstunde an Bord geschlagen hatte, aber nicht, wann es im heimischen London 12 Uhr läutete. Und darum konnte man auch nicht berechnen, wo genau man sich in west-östlicher Richtung befand. Dabei war die Klärung dieser Frage so drängend geworden: Nach der Entdeckung Amerikas hatte der Schiffsverkehr enorm zugenommen, Nationen, die auf sich hielten, stachen in See, um Güter, Gold und Silber zu erbeuten, Kriege zu führen, Handel zu treiben. Ende des 17. Jahrhunderts segelten etwa 300 britische Schiffe pro Jahr zwischen der Heimat und den Westindischen Inseln auf der Jamaika-Route hin und her. Und in der Folge wurde die Not wegen der fehlenden Längengradbestimmung immer größer, sie wurde nach der 1707-Havarie sogar zur Staatsaffäre.

Unzählige Schiffe sanken, weil sie wegen falscher Berechnung auf Grund liefen, ihr Ziel zu früh oder zu spät erreichten oder es aber ganz verloren. Darum wurde 1714 der "Longitude Act" ins britische Parlament eingebracht, der gestaffelte Belohnungen dafür aussetzte, dass sich eine Lösung des Längengradproblems durch Messung der Zeitdifferenz auch nur abzeichnete. 10 000 Pfund (Wert heute: mehr als 1,46 Mio. Pfund) sollte es geben für die Uhr, die eine Längenbestimmung mit Abweichung von nicht mehr als einem Grad gewährleisten konnte. 20 000 Pfund Sterling, wenn sie bei nicht mehr als einem halben Grad lag. Die besten Uhrmacher Londons, damals die Uhrmacher-Metropole Europas, versuchten sich daran - alle vergeblich. Isaac Newton konstatierte: "Wenn der Längengrad auf See einmal verloren ist, werden ihn Uhren nicht wiederbringen." Es dauerte bis 1759. Dann gingen 20 000 Pfund an John Harrison aus Lincolnshire, der mit seiner "H4" den ersten hochseetauglichen Marinechronometer baute. Eine Kostbarkeit, die aussieht wie eine aufgepumpte Taschenuhr.

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