Samstagsküche:Der grüne Heinrich

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Kaum einer kennt sich mit Bergkräutern so gut aus wie Heinrich Schneider. Der Südtiroler zeigt, wie man die Natur der Alpen in Gourmetküche überführt.

Von Titus Arnu

Der Wald riecht nach feuchten Tannennadeln, Gras und vermodertem Holz. In der Nacht hat es geregnet, vom Sarntal ziehen Nebelschwaden hoch und wabern dekorativ zwischen den Bäumen herum. Es sieht schön gespenstisch aus, wie eine Kulisse für einen Fantasy-Thriller, irgendwas mit Hexen und giftigen Pflanzen.

400 Höhenmeter weiter oben, auf dem Hohen Reisch, soll sich einst die Kräuterhexe Pachlerzottl herumgetrieben haben. Der Legende nach traf sie sich auf der 2000 Meter hohen grasigen Kuppe mit dem Teufel, um das Wetter negativ zu beeinflussen. Im Jahr 1540 wurde die angebliche Hexe, in Wirklichkeit eine bemitleidenswerte, von der Dorfgemeinschaft ausgestoßene Frau namens Barbara Pachlerin, auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Autodidakten wie Schneider sind die Ausnahme am Herd eines Spitzenlokals

Etwa 476 Jahre später wirkt es, als hätte wieder jemand das Wetter verhext, denn es ist für den späten Mai sagenhaft kalt und nass auf der Auener Alm, im Wald liegen Schneereste. Heinrich Schneider stapft mit einem Körbchen in der einen und einer Schere in der anderen Hand durchs Gebüsch und hält Ausschau. "Hier, das ist Pestwurz - giftig!", warnt er, und zeigt auf eine Pflanze mit einer auffällig rötlich-weißen Blütentraube. Etwas weiter entdeckt Schneider einen weichen, gelblich-grünen Teppich, der mit feinen Regentropfen bedeckt ist. "Frauenmantel", erklärt er, "gut für Salate, aber vor allem nimmt man ihn für Kräutertees." Doch er sucht etwas anderes - die Gundelrebe, eine unscheinbare Pflanze mit kleinen, violetten Blüten. "Da, mein Lieblingskraut!", ruft er, als er Gundelrebe erspäht.

Der Arzt Pier Andrea Mattioli (1501 bis 1577) empfahl die Gundelrebe (auch als Gundermann bekannt) im Mittelalter bei Schwindsucht und für Patienten, die "Eyter auf der Brust" hatten. Heinrich Schneider empfiehlt Gundelrebe lieber für Desserts. Die Blüten schmecken süßlich, ein mildes Aroma zwischen Vanille und Lakritz. Später, nach der Kräuterwanderung, verwandelt Schneider die frisch von der Almwiese gepflückten Pflänzchen in eine Crème brûlée mit Brennnessel-Gelee und Holunderblüten-Granita - nur ein Baustein eines 16-Gänge-Menüs, das von der Natur rund um das kleine, feine Berggasthaus "Auener Hof" inspiriert ist.

Köstliches vom Straßenrand: Heinrich Schneider mit einer Wildkümmel-Wurzel, die er auf dem Weg zum Hof seines Bruders gepflückt hat. (Foto: Michael Ruder)

"Druidenkoch" hat ein italienischer Gastro-Kritiker Heinrich Schneider wegen seiner Vorliebe für Wildkräuter getauft. Das klingt natürlich markig, aber auch irreführend. Schneider mag vielleicht "Geheimrezepte" haben, aber die haben nichts mit Zauber oder brodelnden Kesseln zu tun. Beim Kräuterspaziergang trägt er eine adrette blaue Kochjacke, und sein Arbeitsplatz im Auener Hof sieht nicht aus wie eine Hexenküche, eher wie ein Kliniklabor - so blitzblank und toporganisiert wirkt dort alles. "Terra-Küche" nennt Schneider seine Kräuter-Kreationen, und der Name passt perfekt. Auch wenn die Gerichte auf dem Teller wie kleine Kunstwerke aussehen und das höchstgelegene Sterne-Lokal Italiens allseits hochgelobt wird - Küchenchef und Gastgeber Schneider ist auf seine Art bodenständig und bescheiden geblieben.

Rund um das Haus, in 1600 Metern Höhe, findet der 44-jährige Autodidakt (die sind selten in der Gourmetliga!) alles, was er für die Küche braucht: Stängelchen, Blättchen, Blümchen, Baumrinde, Moos, Flechten. Fleisch, Fisch und Milchprodukte holt er bei ausgewählten Produzenten im Tal. Sein Kräutergarten ist die Natur - und die macht ihn glücklich, besonders im Frühsommer, wenn das Leben draußen explodiert. Jeden Morgen, wenn die Pflanzen noch taufrisch sind, geht er los - Zutaten pflücken für seine Menüs. Jeden Pfad, jeden Baum, jeden Stein und jeden Pilz-Standort kennt er hier, denn Heinrich Schneider ist im Auener Hof aufgewachsen. Seine Eltern betrieben hier früher einen Berggasthof mit rustikaler Küche - Knödel, Wildgerichte, Suppen, das Übliche. "Wir hatten keine Nachbarn, also haben wir meist alleine im Wald gespielt", erzählt Schneider. Seine Geschwister und die Eltern sind bis heute in nächster Nähe: Schwester Gisela, 41, arbeitet als Sommelière im Restaurant und ist die Chefin des kleinen Hotels, Bruder Walter, 48, betreibt eine Haflingerzucht in der Nähe. Die Eltern helfen immer noch mit im Betrieb.

Eine Grundregel lautet: Kräuter sind mehr als bloße Garnitur

Von der Mutter lernte Heinrich Schneider die Grundkenntnisse über Küchenkräuter, von der Oma, wie man Pflanzen medizinisch einsetzt. Später stieg er in die Restaurantküche der Eltern ein und absolvierte Kräuter- und Pilz-Seminare im Land- und Forstwirtschaftlichen Versuchszentrum Laimburg. Aber die wichtigsten Erkenntnisse gewann er durch Experimente. Noch bevor die "Neue Nordische Küche" mit dampfgegarten Farntrieben, Stachelbeeren-Essig oder Knochenmark mit Moltebeeren von sich reden machte, bastelte Schneider in seiner Küche mit den Zutaten herum, die das Sarntal hergibt. Er marinierte Bachsaibling mit Mohn, stellte Gelee aus Himbeeressig her, verbrannte Bergkräuter zu Asche und streute sie auf Fleisch. Er legte Rentierflechte in Milch ein, bis die Bitterstoffe entzogen waren. Das Ergebnis - in Olivenöl frittierte Flechte mit marinierter Forelle und Sauerklee - schmeckt so frisch und würzig, wie der Frühsommer-Wald riecht.

Tortelli von der Erschbaumhof-Ricotta mit Hirschhornflechte. (Foto: Michael Ruder)

Schneider benutzt derzeit etwa 60 verschiedene Pflanzen in verschiedenen Aggregatzuständen. Nicht nur Kräuter, auch Teile von Bäumen, etwa Fichtensprösslinge, Birkenrinde und Äste, die er im Ofen röstet und dann das Aroma extrahiert, etwa für Desserts wie "Birkeneis mit Gewürzcreme, getrockneter Milchhaut, Karamellpaste von schwarzen Bohnen und Waldblütenhonig". Vieles von dem, was Heinrich Schneider in seinem Feinschmeckerlokal serviert, lässt sich kaum für den Hausgebrauch nachmachen, dafür ist es viel zu kompliziert (einige Rezepte von ihm finden sich im Kräuterglossar rechts, zwei davon sind recht praktikabel, andere taugen eher für ambitionierte Köche oder als Illustration von Schneiders Arbeit). Was man aber lernen kann von seiner Art zu kochen, ist etwas Grundlegendes. Viele Hobbyköche verwenden Kräuter bloß als Garnitur, sie streuen Petersilie über den Salat oder mischen Schnittlauch ins Rührei. Dabei sind viele Pflanzen mehr als eine Beigabe - sie sind eigenständige Gerichte.

"Hier, Löwenzahn", sagt Heinrich Schneider beim Kräuter-Spaziergang und zeigt auf die gezackten Blätter am Wegrand. "Die jungen Löwenzahnblätter gab es früher bei uns zu Hause als Salat." Am Zaun neben der Straße wachsen büschelweise Taubnesseln, sie sehen aus wie Brennnesseln, brennen aber beim Pflücken nicht. Für die Wildkräuterküche interessant ist der champignonähnliche Geschmack der obersten zarten Blätter. Heinrich Schneider verwendet Taubnesseln wie Spinat, etwa als Beilage zu Fisch.

Am Ende des Rundgangs trifft Heinrich Schneider noch auf seinen Namensvetter, den "Guten Heinrich", auch Bergspinat genannt: große, dunkelgrüne Blätter, grünliche Blüte. Die Pflanze stand dem Volksglauben nach in Verbindung mit Elfen, Kobolden und anderen guten Hilfsgeistern. Das mag sein, aber der eine gute Heinrich verwandelt den anderen Guten Heinrich mit Nudelteig, Butter und Parmesan ohne Zaubertricks in einen grundsympathischen Helfer - gegen den Hunger.

© SZ vom 04.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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