Ladies & Gentlemen:Die neue Kritzelkultur

Lesezeit: 2 min

(Foto: Saint Laurent)

Ist das Kunst oder Kinderhand? Egal, was irgendwie aussieht wie spontan hingeschmiert, wird diesen Sommer auf teuren Taschen und T-Shirts zum Hingucker.

Von Max Scharnigg und Julia Werner

Für sie: Rätselhaft & unperfekt

Hat eigentlich noch jemand eine Handschrift? Das Tippen hat den Stift bekanntlich verdrängt. Alles ist digital, und alle schreiben gleich, der einzige Spleen, mit dem man etwas über sich selbst sagen kann, ist das Lieblings-Emoji. Nur die Briten, bekanntlich die spleenigsten unter den Europäern, halten an diesem altmodischen Ausdruck der eigenen Persönlichkeit fest: Selbst wenn gar kein Geschenk dabei ist, eine persönlich gestaltete Karte zum Geburtstag gibt es immer. Wundervoll ist das! Die moderne Frau sollte also auch heute noch unbedingt persönliche Grußkarten mit eingraviertem Namen besitzen, die sie den Leuten zu- oder an Dokumente und Präsente aller Art anstecken kann. Etwas per Hand Geschriebenes ist pure Liebe, alles andere, zum Beispiel die obligatorischen Geburtstagsgrüße auf Facebook, pure Roboterfunktion. Es kann kein Zufall sein, dass man auf Instagram und auf Accessoires aller Art jetzt immer öfter Handgeschriebenes sieht. Manchmal sind es banale Kaffeetassensprüche, manchmal schlaue Aphorismen, und manchmal, wie auf diesem T-Shirt von Yves Saint Laurent Rive Droite, totale Gaga-Botschaften. Was uns der Künstler Nick Turner hier sagen will, versteht kein Mensch, aber darum geht es nicht: Das Durchgestrichene, Unperfekte in diesem hingekritzelten Slogan illustriert das Nachdenken und Ausbessern während des Aufschreibens, also das, was Homo sapiens ausmacht. Nieder mit der künstlichen Perfektion, es lebe der menschliche Makel! Oder auch: die Sauklaue.

(Foto: Mrporter.com)

Für ihn: Genie & Wahnsinn

Eigentlich kein Wunder, dass man sich derzeit gerne mit Krakeltypo schmückt, sei es als Poster, Plattencover oder Textilmuster: Handschrift sieht schließlich immer irgendwie nach Geistesgröße aus und vor allem nach individuell. Darum geht es ja dem zeigefreudigen Konsumenten heute vorrangig, und die Mode hat dementsprechend vielerlei Zugänge gefunden, ihren Produkten einen individuellen Anstrich zu geben - von künstlicher Patina bis zu vielfältigen Customize-Angeboten. Wenn etwas aussieht wie selbstgemacht, aber in Wirklichkeit 800 Euro gekostet hat - her damit! Aber in dem Krakeltrend steckt auch noch ein bisschen mehr. Männer sind nämlich einfach sehr anfällig für geniehaftes Gekritzel, angefertigt am liebsten am Schumann's-Tresen zu vorgerückter Stunde. Die neue Drehbuchidee, die pointierte Rede zum runden Geburtstag des besten Freundes, das vorläufige Testament - formschön hingeschmiert auf die Serviette, ha! Kaum eine Männer-Idee, die nicht gerne so entstanden wäre. In diesem Geist bewegt sich also auch diese schlichte Baumwolltasche von Raf Simons (gesehen bei mrporter.com). Sie macht ihren Träger interessant, ohne dass er irgendwas dafür tun musste. Aber was soll das eigentlich für ein Sinnspruch sein, den der Designer da durchgewinkt hat? Let's Drink the Sea and Dance? Ist das irgendein Hemingway-Zitat? Ein Ibiza-Trinkspruch? Nein, Wort und Kritzelschrift sind, wie man lernt, einem Kunstwerk des belgischen Malers Philippe Vandenberg entnommen und laden also zum beflissenen Überdenken ein. Kunst kommt von Kritzeln, weiß man ja.

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