Mode-Dokumentation:In seinen Händen

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Der revolutionäre Modemacher Martin Margiela hat sein Gesicht nie öffentlich gezeigt - und 2009 verschwand er endgültig. Ein Dokumentarfilm kommt dem Phantom nun erstaunlich nahe.

Von Tanja Rest

Im Dezember 2009, gut zehn Monate bevor Instagram online ging, verließ Martin Margiela offiziell die Maison Martin Margiela. Wenn man es heute so hinschreibt, wird ein Kausalsatz daraus. Die Wahrheit ist, dass kaum ein Mensch weiß, warum dieser revolutionäre Modemacher schon ein Jahr vorher, am Abend nach seiner Show-Retrospektive zum 20. Markenjubiläum, einfach so verschwand, sich von niemandem verabschiedete, auch nicht von seinen frühesten und treuesten Weggefährten. Er war dann halt mal weg. (Kann einer, der immer ein Phantom gewesen ist, überhaupt verschwinden?)

Womöglich hatte sein feinnerviger Instinkt aber wirklich antizipiert, dass da eine alles verschlingende Bildermaschine auf ihn zurollte, die jeden hintergründigen Look, jede noch so subtil gesetzte Naht in ein Gesicht übersetzen würde. Balmain: War das plötzlich nicht das Label, das Kim Kardashian trug? Dior: Folgte nach der eigentlichen Show nicht immer noch eine zweite, in welcher der Designer John Galliano (heute geläutert und bizarrerweise Margielas Nachfolger) als Pirat, Indianer, Kapitän auftrat? Chanel: Wurde es nicht endgültig zur Marke "Karl", dem Mann mit dem Stehkragen, dem Mozartzopf und der schnurrenden Choupette auf dem Schoß?

Martin Margiela hat sein Gesicht niemals öffentlich gezeigt und nach der Show auch nicht die Ovationen entgegengenommen, die zunehmend anbetender und schriller wurden. Er war insofern der Banksy der Branche, Provokation und Rätsel gleichermaßen. Bevor die Mode begann, sich auf Instagram in sich selbst zu verknallen, sortierte er die letzten seiner Zeichnungen in kalkweiße Pappschachteln ein, beschriftete sie mit schwarzem Edding, schob sie in ein Regal und - ging. Ein radikaleres Statement ist kaum denkbar.

Erstmals wird der Designer zum Erzähler seines Werks

Als bekannt wurde, ein deutscher Regisseur namens Reiner Holzemer habe Margiela wahrhaftig vor die Kamera gekriegt, schnappte die Fangemeinde nach Luft, und nicht von ungefähr. Denn hier ist er tatsächlich, der große Unbekannte, der in seinem Leben kaum ein Interview gegeben hat. Er sitzt in diesem Raum voll weißer Pappschachteln, die sein Werk enthalten, und natürlich sieht man sein Gesicht auch diesmal nicht. Aber man sieht seine Hände, empfindsame Hände mit langen Fingern, und man hört seine Stimme, widerstrebend, stockend - ein bisschen so, wie in Maximilian Schells Dokumentarfilm "Marlene" 1984 die knarzende Stimme der sehr alten Marlene Dietrich zu hören war, während das Kameraauge ruhelos durch die Pariser Wohnung zoomte auf der Suche nach etwas, an dem es sich festhalten konnte.

Im Film sitzt Martin Margiela in einem Raum voll weißer Pappschachteln, die sein Werk enthalten. (Foto: Screenshot aus "Martin Margiela - Mythos der Moderne")

In "Martin Margiela - Mythos der Moderne" (seit Donnerstag im Kino) wird der belgische Designer, in Erinnerungen blätternd, erstmals zum Erzähler seines Werks. Ein Werk, das, je stärker es in den Fokus der Öffentlichkeit geriet, sich immer mehr beschützen musste vor neugierigen Blicken und der Frage, was das alles eigentlich bedeuten sollte. Models von der Straße, deren Gesichter von Perücken verhüllt waren. Mänteln aus zerbrochenen Tellern, Jacken aus Einkaufstüten, Pullover aus miteinander vernähten Socken. Schuhe, die denen der japanischen Arbeiterinnen nachempfunden waren, mit separiertem großen Fußzeh ("Tabi Boots"). Schmuck aus koloriertem Eis, der während der Show an den Hälsen der Models schmolz und in ihre Kleider regelrecht hineinblutete. Nicht zuletzt: ein weißes Etikett, mit vier Fäden befestigt, auf dem kein Name stand. Pure, postmoderne Avantgarde also. Cathy Horyn, damals Kritikerin der New York Times, erinnert sich, eine solche Margiela-Show einmal in der Pariser Dependance der Heilsarmee erlebt zu haben, sie saß auf einer Waschmaschine und war beinahe so empört wie ratlos. Was sollte der Quatsch?!

Zu seinem Werk gehören auch Models von der Straße, deren Gesichter von Perücken verhüllt waren. (Foto: Screenshot aus "Martin Margiela - Mythos der Moderne")

"Ich möchte kein Celebrity sein", sagt die Stimme von Martin Margiela, während seine Hände einen Champagnerkorken behutsam einkleiden. "Ich habe die Entscheidung, unsichtbar zu bleiben, zu meinem eigenen Schutz getroffen. Aber die Kollektion muss stark sein. Weil es schwierig ist, sich einen Namen zu machen, wenn man kein Gesicht damit verbindet."

Mag sein, man hätte sich eine radikalere Perspektive gewünscht auf diesen großen Wahnsinnigen, der in den Neunzigerjahren Intellektuelle auf der ganzen Welt beflügelt hat. Wie schon in seinem Dries-Van-Noten-Porträt 2016 hält sich Holzemer aber auch hier streng an die Konventionen der Fashion-Doku: Kindheitsfotos, abgefilmte und sehr hübsch animierte frühe Modezeichnungen, Footage der wichtigsten Laufsteg-Shows, prominente Stimmen (neben Cathy Horyn auch Jean Paul Gaultier, Carine Roitfeld, Carla Sozzani und die Trendforscherin Li Edelkoort), all dies in eine chronologische Reihenfolge gebracht. Wie es sich eben gehört.

Andererseits kann man gar nicht genug darüber staunen, dass es in diesem Film nun endlich zu uns spricht, das Enigma Margiela, so intim, mit solch fähigen Händen - und am Ende eben doch nicht alles verrät. Welch ein Glück.

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