Bevor Sie weiterlesen, ein Vorschlag: Ziehen Sie los und versuchen Sie einen Riesling Kabinett der Geschmacksrichtung halbtrocken oder feinherb zu bekommen. Er sollte nicht mehr als 11 Volumenprozent Alkohol enthalten und von der Mosel, Saar oder Ruwer, von Nahe oder Rhein stammen. Finden Sie einen solchen Riesling nicht, so ist das schade, aber nicht verwunderlich. Denn dieser Typ, der Deutschlands Ruf als Herkunft einiger der feinsten Weißweine der Welt begründete, ist rar geworden.
Dabei zählt der klassische Kabinettwein, der nicht zu süß und nicht zu trocken ist, sondern Frucht, Säure und Restzucker bei niedrigem Alkoholgehalt (9-11 Vol-%) in faszinierende Balance bringt, zu den delikatesten Weißweinen der Welt. Es ist ein leichtfüßiger Wein, der vor allem als Riesling von unnachahmlicher Finesse sein kann. Die ganze Welt, der schweren, opulenten Weine müde, beneidet uns um diesen Wein, der zwar leicht und preiswert, aber alles andere als banal ist - und der nirgends in der Welt kopiert werden kann. Weil es nirgends vergleichbar günstige Bedingungen für diese Art Wein gibt.
Und doch ist der deutsche Kabinett bedroht. Die trockenen Kabinettweine sind meistens zu alkoholreich, die süßen zu süß und die Weine dazwischen? Sind praktisch schon ausgestorben. Allein ein paar Rieslinge changieren geschmacklich noch zwischen gesetzlich trocken (bis 9 Gramm Restzucker) und süß (ab 45 Gramm). Doch was nicht genau verortet und bezeichnet werden kann, scheint uns Deutschen suspekt, daher lassen wir lieber die Finger davon. Halbtrocken? Wie das schon klingt. Oder feinherb: Wie schmeckt denn das?
Wilhelm Haag, der 50 Jahre lang die Rieslinge des Weinguts Fritz Haag in Brauneberg an der Mosel gekeltert und weltberühmt gemacht hat, weiß: "Wenn man den Leuten nicht sagt, ob der Wein, den sie probieren, nun trocken oder süß ist, dann entscheiden sich viele für den halbtrockenen Riesling. Weil dessen Süße eher als Frucht wahrgenommen wird. Und weil er so wunderbar die Kehle runter läuft." Der klassische Kabinett, sagt Haag, das sei unser Wein, der Wein der Deutschen. Und die Welt liebe uns für diesen Wein. "Der Kabinett ist eben ein Zechwein, ein leicht zu trinkender Wein, von dem man sich abends gerne mal eine Flasche reintut."
Das eher kühle Klima, die langen warmen Sommertage und kühlen Nächte, die damit verbundene lange Reifezeit sowie die mineralreichen Böden in den deutschen Flusstälern bilden tatsächlich eine einzigartige Kombination. Sie lässt die Trauben langsam, zum Teil bis weit in den November hinein ausreifen, ohne dass sie, wie in anderen Weinbaugebieten, an Aroma und Säure verlieren. Im Gegenteil: Die Säure verfeinert sich und das Traubenaroma intensiviert sich.
Haag meint, man müsse den Boden im Wein riechen und schmecken. Dann bückt er sich, hebt ein Schiefersteinchen auf, spaltet es mit den Fingernägeln und reicht seinen Besuchern ein hauchdünnes Plättchen: "Esst!" Und seine Kunden, in diesem Fall Amerikaner, legen den Schiefer auf die Zunge und beginnen zu lutschen. "That's it!", rufen sie. "Ja, das ist die Juffer", jubelt Haag - und reicht seinen erleuchteten Gästen zum Hinunterspülen einen Schluck Brauneberger Kabinett feinherb, der in der Juffer, gleich oberhalb der berühmten Juffer-Sonnenuhr, gelesen wurde.
Wenn einen die Trauben goldgelb anlachen, aber noch einen grünen Schimmer haben, dann ist es an der Zeit, den Kabinett zu lesen, sagen die Winzer. "Uns bleiben jedoch nur zwei Tage", meint Tim Fröhlich vom Weingut Schäfer-Fröhlich in Bockenau an der Nahe: "Lesen wir zu früh, ernten wir unreife Trauben und können nur einen unreifen Wein daraus keltern. Lesen wir hingegen zu spät, verlieren wir womöglich die gesunde Frucht und der Wein wird für einen Kabinett zu üppig." In warmen Jahren wie 2011, als die Traubenreife im teils feuchten September und Oktober dramatisch anstieg, war es weit schwieriger, die gesunden Trauben für einen echten Kabinett zu selektionieren als die Rosinen für eine weit teurere Auslese. Normalerweise ist es umgekehrt.
Die meisten trockenen Kabinettweine des aktuellen Jahrgangs 2011 sind mindestens 12,5 % schwer, aber es gibt auch viele mit 14 und mehr Volumenprozent Alkohol. Das mögen im einzelnen passable Weine sein. Aber sie tanzen nicht. Vor diesem Hintergrund ist das Prädikat Kabinett für die meisten so bezeichneten trockenen Weine eigentlich Etikettenschwindel.
Womit wir beim komplizierten Teil der Geschichte wären. Dem Weingesetz nach sind alle die Weine Kabinettweine, die, unabhängig von ihrer Geschmacksrichtung, aus Trauben bereitet werden, die bei der Lese, je nach Anbaugebiet und Rebsorte, ein Mindestmostgewicht von 67 bis 87° Oechsle auf die Mostwaage gebracht haben und die nicht mit Zucker angereichert (chaptalisiert) wurden. Das deutsche Weingesetz von 1971 unterscheidet die unterschiedlichen Qualitätsstufen allein nach Mostgewichten, also dem Zuckergehalt der Trauben bei der Lese. Der Kabinett ist daher die unterste Stufe des Qualitätsweins mit Prädikat. Ihm folgen die Prädikate Spätlese, Auslese, Beerenauslese, Eiswein und Trockenbeerenauslese.
Jedoch sollte man sich davor hüten, höhere Prädikate obligatorisch für die besseren Weine zu halten. Denn Zucker allein macht keinen guten Wein. Auch sind Qualitätsweine ohne Prädikat nicht die schlechteren Weine. So sind etwa die prestigeträchtigen, oft alkoholschweren "Großen Gewächse", Deutschlands Grands Crus also, allesamt Qualitäts-, aber keine Prädikatsweine. Außerdem sind sie obligatorisch trocken, während Prädikatsweine zwanghaft süß sein müssen. Für die feinherben großen Weine aus klassifizierten Spitzenlagen gibt es hingegen keine Bezeichnung: Mit ihren 10 bis 20 Gramm Restzucker sind sie weder Große Gewächse noch süße Prädikatsweine - sondern irgendetwas dazwischen, für das es keinen Namen gibt.
Es gab jedoch mal einen: Cabinet. Cabinet-Weine waren im ausgehenden 19. Jahrhundert die besten Weine eines Jahrgangs. Damals und noch in den 1920er und 1930er Jahren, als die Gärung weit weniger auf ein bestimmtes Geschmacksprofil hingesteuert wurde als heute, waren diese Weine so gut wie nie trocken. Sie waren aber auch nicht richtig süß. Und im fortgeschrittenen Alter, nach Jahren im großen Holzfass und Dekaden auf der Flasche, schmeckten (und schmecken noch immer!) diese Weine weder süß noch wirklich trocken, sondern herrlich füllig, intensiv, pikant und würzig. Noch dazu sind insbesondere die deutschen Rieslinge jener Zeit von einer Lebendigkeit, Feinheit und fruchtigen Eleganz, die kein anderer Weißwein der Welt im hohen Alter aufweisen kann. Selbst weit gereiste Verkoster reißen diese Weine immer wieder zu verzückten Applausstürmen hin.
Man könnte den Geschmack dieser fast schon unwirklich schönen Weine anmutig oder gar lieblich nennen, würden diese Begriffe nicht Fluchtreflexe auslösen. Früher aber wurden diese Weine nicht einfach bei erstbester Gelegenheit verkauft, sondern ins Cabinet gelegt, in die Schatzkammer. Nach Jahren der Flaschenreife wurden sie dann zu ganz besonderen Anlässen getrunken oder aber auf Auktionen für schwindelerregende Preise versteigert. Auf Kloster Eberbach im Rheingau liegen noch immer zahlreiche Cabinet-Weine in der legendären Schatzkammer der Hessischen Staatsweingüter. Wer je das Glück hatte, einen von ihnen zu kosten, wird seinen Geschmack und die dadurch freigesetzen Emotionen niemals wieder vergessen.
Die Wertschätzung des Cabinet hat der Kabinett leider nie erfahren. Er wurde als leichter Wein eher bagatellisiert als geehrt. Als sei es kein Kunststück, einen natürlich alkoholarmen, aber doch reifen Wein zu erzeugen, dem es sonst an nichts fehlt. In Wahrheit ist ein guter Kabinett die schwierigste Kunst. Ob er deshalb so selten ist?
Viele Winzer führen entschuldigend die Klimaerwärmung an, die ihnen hochreife und mitunter auch faule Trauben in die Reben hänge, aus denen man keine leichtfüßigen Kabinettweine mehr erzeugen könne. Aber mal davon abgesehen, dass es dafür auch andere Gründe gibt, vor allem solche, die mit der Bewirtschaftung der Weingärten, mit moderner Kellertechnik und Weinbereitung zu tun haben: Betriebe wie Egon Müller-Scharzhof, Joh. Jos. Prüm, Dr. Loosen, Dr. Wagner, von Hövel, Lauer oder St. Urbanshof-Nic Weis, allesamt Saar- und Moselwinzer, zeigen auf stilistisch jeweils ganz unterschiedliche Weise, dass man auch heute trockene, halbtrockene und süße Kabinettweine erzeugen kann, die Zechweine auf allerhöchstem Niveau sind.
Man muss eben wissen, aus welchen Lagen man Kabinettweine holen kann", sagt etwa Markus Molitor, dessen Zeltinger Sonnenuhr Riesling Kabinett trocken Fuder 6 vom Gault Millau WeinGuide viermal in Folge zum besten trockenen Kabinett Deutschlands gewählt wurde. Molitor, der wie viele Moselwinzer über einen hohen Bestand alter, noch wurzelechter Reben verfügt, holt seine Kabinettweine aus den höheren Lagen, weil die Trauben dort langsamer und somit länger ausreifen können und bis in den November hinein eine knackige, für den Kabinett charakteristische Säure bewahren. Obwohl seine Kabinettweine analytisch Großes Gewächs-geeignet wären und deutlich mehr als 88° Oechsle auf die Mostwage bringen, sind es leichte Weine. Sie verfügen jedoch über eine geschmackliche Dichte, die sie zu einem großen Genusserlebnis machen.
In praktisch allen deutschen Weinbaubetrieben sind die Kabinettweine die ersten, die ausverkauft sind. Sicher nicht nur wegen des vergleichsweise niedrigen Preises. Sondern weil man sie einfach gerne trinkt, ohne gleich in Meditationen zu verfallen. Die trockenen Kabinettweine werden vor allem in Deutschland und Skandinavien getrunken, die süßen hingegen in Asien und Nordamerika. Die halbtrockenen Weine jedoch bleiben erst mal liegen - was ihnen nicht schadet, denn sie werden mit dem Alter immer besser.
Die Deutschen seien "schizophren", sagt David Schildknecht, einflussreicher US-Weinkritiker bei Robert Parkers Wine Advocate: "Entweder muss ein Wein für sie trocken sein oder richtig süß. Der ganze Bereich dazwischen existiert für sie nicht und geht verloren. Dabei sind genau dies die Weine, die wirklich einzigartig sind und die Deutschland weit mehr benötigt als die angeberischen Großen Gewächse."
Es wäre durchaus eine Überlegung wert, den Riesling Kabinett zum Weltkulturerbe zu ernennen. Aber dazu müssten erst mal Kriterien erarbeitet werden, die über die Fixierung an Zuckergradationen hinausgehen. Vor allem aber müsste auch der urtümliche feinherbe Kabinett häufiger getrunken werden. Am besten gleich.