Dem Geheimnis auf der Spur:Stein oder Nichtstein

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Über die Mojave-Wüste gibt es unzählige Geschichten, in manchen kommt sogar ein Ufo vor. (Foto: Imago)

Der Pop-Art-Maler und Fotograf Ed Ruscha soll einen von ihm geschaffenen mannshohen Felsen in der Mojave-Wüste aufgestellt haben. Aber wo "Rocky II" geblieben sein könnte, das hat seit 1979 niemand herausgefunden.

Von Sofia Glasl

Die Mojave-Wüste ist ein wundersamer Ort. Nicht nur die Spielhölle Las Vegas liegt am nördlichsten Zipfel der Wüste, auch die legendäre Route 66 verläuft an der Grenze zwischen Kalifornien, Nevada und Arizona in Richtung Los Angeles. Verschwörungstheoretiker wie Ufo-Gläubige haben an der Area 51 ihre Freude, und der bei Landers in Kalifornien gelegene Giant Rock ist nicht nur als spiritueller Ort der indigenen Hopi bekannt, sondern auch als Austragungsort der "Giant Rock Spacecraft Convention", die der selbsternannte Ufologe George Van Tassel zwischen 1958 und 1973 hier veranstaltete. Nur einen Steinwurf entfernt erbaute er das Integratron, in dem er mithilfe von Magnetfeldern Verjüngungskuren und Zeitreisen ermöglichen wollte. Der Glitzer Hollywoods, seine Schattenseite Las Vegas und eine Prise psychedelische Alien-Vibes flirren also in der trockenen Wüstenluft.

In diesem Spannungsfeld bewegt sich die Kunst des Pop-Art-Malers und Fotografen Ed Ruscha. Der Hollywood-Schriftzug ist eines seiner bekanntesten Motive. Er hat ihn von der mythologischen Vorderseite wie auch von der metaphorischen Rückseite in vielen Werken dargestellt. Auf den Roadtrips zu seinem 15 Kilometer von Landers entfernten Ferienhaus in der Mojave-Wüste hat er Material für seine Arbeiten gesammelt und die Veränderung der Gegend dokumentiert - am Wegesrand ausrangierter Hausrat ist für ihn so interessant wie die bergige Wüstenlandschaft.

"Rocky II" heißt der ominöse Felsen, wohl als Reverenz für Sylvester Stallones Film

Dass aber die Wüste ihn zu einem ganz anderen Projekt inspiriert hat, war der Kunstwelt bis vor Kurzem verborgen: 1976, dem Jahr seiner zweiten Teilnahme an der Biennale in Venedig, fertigte Ruscha einen künstlichen Felsen an und setzte ihn mitten in der Wüste aus: Gleichsam ein billiges Felsimitat inmitten von Originalen. Die Skulptur hatte einen Pappmaschee-Kern, der schnell verrottete. Ein 1979 aus Kunstharz und Sand gefertigter zweiter Stein war wetterfest und liegt angeblich immer noch irgendwo in der 35 000 Quadratkilometer großen Wüste. Wie der Giant Rock, nur kleiner, ist er etwa mannshoch und geformt wie ein zusammengedrückter Tennisball. Er heißt "Rocky II" - offensichtlich ist der Spitzname eine Reverenz an Silvester Stallones zweiten Boxfilm, der 1979 Premiere feierte.

Die Aktion wäre vermutlich weiter unbekannt geblieben, wäre der französische Künstler und Filmemacher Pierre Bismuth um 2005 nicht auf die 1979 erschienene BBC Dokureihe "Seven Artists (7 Parts)" gestoßen. Regisseur Geoffrey Haydon widmete Ed Ruscha eine Folge und konnte ihn und seinen Künstlerkollegen Jim Ganzer dabei filmen, wie sie den Stein auf der Ladefläche eines Pick-up-Trucks in die Wüste fuhren und aufbauten. Es sind die einzigen Belege für die Existenz von "Rocky II". Hinweise auf den genauen Standort gibt es keine, und sowohl Geoffrey Haydon als auch die Produzenten des Films gaben im Gespräch mit Bismuth an, sich nicht mehr daran zu erinnern.

Im Werkverzeichnis Ed Ruschas ist "Rocky II" nicht aufgeführt, auch nicht in der auf Ruschas Homepage veröffentlichten Liste verschollener Werke. An ihn selbst kam Bismuth nicht heran und musste sich 2009 bei der Pressekonferenz von dessen Ausstellung in der Londoner Hayward Gallery als Journalist ausgeben, um ihn erfolglos zu fragen: "Where is Rocky II?" Dies sollte zugleich der Titel des eigenen Dokumentarfilms werden, der 2016 auf dem Filmfestival in Locarno Weltpremiere feierte. Darin engagiert er einen ehemaligen Mordkommissar als Privatdetektiv für den merkwürdigen Fall. Der Detektiv spürt Jim Ganzer auf, übrigens die Inspiration für den dauerkiffenden schlurfigen Dude in "The Big Lebowski" der Coen Brothers. Auch 40 Jahre später verleiht er der ganzen Aktion die Aura einer im Delirium ersonnenen Schnapsidee und reiht sie in die Absonderlichkeiten der Mojave Desert ein. "Was in der Wüste passiert, bleibt in der Wüste", scheint hier das Motto gewesen zu sein.

Merkwürdig ist das Ganze deshalb, weil "Rocky II" nicht nur wie vom Erdboden verschluckt ist, sondern mehrere pragmatische und philosophische Fragen aufwirft: Weshalb lässt Ed Ruscha sich dabei filmen, wie er den Stein in die Wüste fährt, verweigert jedoch anschließend jeglichen Kommentar? "Rocky II" wäre die einzige Skulptur des Künstlers - war sie vielleicht gar nicht als Kunstwerk gedacht, sondern als etwas anderes? Und wenn ja, als was? Ein Versteck für etwas?

Ed Ruscha betätigt sich also nicht als Kunstfälscher, sondern vielmehr als Realitätsfälscher und wirft die Frage nach der Definition von Kunst auf. Wenn Fiktion sich wie eine Filmkulisse in die Realität einschleicht und so einfügt, dass niemand sie als solche erkennt, was macht das mit unserem Konzept von Realität und Wahrhaftigkeit?

Das Erstaunliche an "Rocky II" ist, dass nicht nur sämtliche Größen der Kunst- und Museenwelt auf Bismuths Frage nach dem Felsen vor den Kopf gestoßen sind, weil sie noch nie davon gehört haben, sondern auch die Tatsache, dass das Objekt nach dem gefeierten Film nicht wirklich rezipiert wurde. Lediglich der Katalog zur Ausstellung "Ed Ruscha and the Great American West" 2016 im De Young Museum in San Francisco erwähnt die Aktion in der Timeline seiner Karriere kurz, geht jedoch sonst auch nicht weiter darauf ein.

Pierre Bismuth geht der Suche nach "Rocky II" auch mit zwei Drehbuchautoren auf den Grund, die neben der detektivischen Ermittlungen eine fiktionale Erklärung für die Existenz des Felsen ersinnen sollen. Denn nicht nur das "Wo?", sondern auch des "Warum?" haftet dem Fake-Felsen weiterhin an. Ob er "Rocky II" gefunden hat, lässt auch Bismuth offen.

© SZ vom 03.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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