Dem Geheimnis auf der Spur:Hoheitsakt in Tönen

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Am Jahresende wird weltweit gern Beethovens 9. Symphonie gespielt - die "Ode an die Freude" funktioniert quasi als Garant eines auratischen Jahreswechsels. Doch was hat es auf sich mit der ominösen Zahl neun?

Von Wolfgang Schreiber

Silvester, Neujahr, Beethovens 9. Symphonie - das populärste Ritual klassischer Orchesterkultur. Zum ersten Mal an Silvester hatte sie wohl der Dirigent Arthur Nikisch 1918 in einem Leipziger Silvesterkonzert der Arbeiterbewegung (!) dirigiert. In den Konzertsälen und über die Medien der Welt gilt "die Neunte" inzwischen als Garant eines auratischen Jahreswechsels. Mehr noch: Sie ist ein Symbol hochkultureller, sogar politischer Repräsentation, quasi ein Hoheitsakt in Tönen. Andererseits der Argwohn: Etwas scheint nicht zu stimmen mit ihr. Das weiß man nicht erst, seit die Neunte beim G20-Gipfel 2017 in Hamburgs Elbphilharmonie von den Staats- und Regierungschefs als Begleitmusik in Dienst genommen, also missbraucht wurde. Die Neunte, Beethovens symphonischer Appell mit dem Schlusschor der Götterfunken-Religionsphilosophie, sie gibt Rätsel auf.

Dabei ist es großartig, wie wort- und klanggewaltig durch Schillers Ode "An die Freude" die utopische Idee der Menschenverbrüderung gefeiert wird. Und dass die ästhetische Grenzüberschreitung ihre aufrüttelnde Kraft bis heute nicht eingebüßt hat. Der Jubelchor "Freude, schöner Götterfunken" konnte im historischen Moment ganz realistisch politische Fantasie anfeuern: Kurz nach Fall der Mauer 1989 sah sich Leonard Bernstein, Dirigent und Komponist, beim Konzert in Berlin veranlasst, das Fanal von Schiller/ Beethoven im Sinne der deutschen Revolution umzubiegen. "Freiheit, schöner Götterfunken" sangen, nicht unumstritten, die Chöre.

Der Nimbus, die magische Anziehungs-kraft seiner letzten Symphonie hat mit solcher moralischen Mission, ebenso mit der Zahl Neun zu tun. Mit ihr hatte Beethoven zwar seine Grenze des Symphonischen erreicht, obwohl er eine "Zehnte" geplant und schon Skizzen entworfen hatte. Keineswegs war aber die Neunte als symphonischer Abgesang oder gar Jahresendmusik vorgesehen. Dass von der bloß fiktiven Zehnten jetzt die Illusion einer die Kunst überlistenden "Vollendung" per Algorithmus entstehen konnte, hat eine durchaus tragische Dimension zeitgenössischer Impotenz: Die jüngst von Künstlicher Intelligenz generierten Klänge mögen technikgläubiges Staunen hervorrufen, doch fehlt ihnen "Überschuss und Ausbruch aus dem Bekannten, mit einem Wort: Genialität" (SZ 12.12.).

Beethovens "Vorläufer" kannten noch keine Grenzzahlen. Joseph Haydn hat es auf sage und schreibe 104 symphonische Werke gebracht, Mozart gelangen 41 Symphonien. Erst mit Beethoven und nach ihm entfalten sich die ästhetischen und existenziellen Fragen um die symphonische Neun. Der jüngere Franz Schubert schrieb acht Symphonien, seine scheinbar "Unvollendete" braucht keine Fortsetzung. Felix Mendelssohn Bartholdy hinterließ fünf. Johannes Brahms und Robert Schumann hatten mit vier Symphonien ihre Kraft fürs instrumental Weite und Große ausgeschöpft. Der Böhme Antonin Dvořák weilte für einige Zeit in Amerika und nannte die dort entstandene neunte Symphonie "Aus der Neuen Welt".

Die Idee des Symphonischen ist grenz-überschreitend, so grandios wie heikel im universalen Anspruch: Symphonien richten sich nicht nur an Freunde und Liebhaber wie die Kammermusik, sie sollen, seit Beethovens Sinfonia eroica, Botschaften an alle, an die Menschheit verkünden. Beethovens Fünfte erklingt, wie der Dichter-Musiker E. T. A. Hoffmann romantisch dachte, im "Reich des Ungeheueren und Unermesslichen". Es bestimmt bis ins 20. Jahrhundert die innere Beschaffenheit von Symphonien, bei Sergej Prokofjew mit sieben oder Dmitri Schostakowitsch mit 15 Werken. Bei Jean Sibelius wartete die Welt, vergebens, auf seine Achte.

Die Entstehung einer neunten Sympho-nie wurde für zwei Meister des ausgehenden 19. Jahrhunderts zum Schicksal: Anton Bruckner und Gustav Mahler. Der glaubensfeste Bruckner musste seine Neunte, "dem lieben Gott" gewidmet, als Torso zurücklassen, ein dritter, entrück-ter Adagiosatz krönt das dunkle Werk. Skizzen zum vierten Satz wurden "vollendet". Das Ergebnis blieb hypothetisch.

Gustav Mahler war sich des Fluchs einer "Neunten" bewusst, er reagierte abergläubisch. Nach der riesigen Achten, der "Symphonie der Tausend", deren sensationelle Münchner Uraufführung im September 1910 wie eine Weltverkündigung begangen wurde, nannte er sein nächstes großes Orchesterwerk "Das Lied von der Erde". Mit sechs symphonischen Gesängen auf Gedichte aus China ("Dunkel ist das Leben, ist der Tod") gedachte er das Schicksal zu überlisten. Mahler hielt den Bann für gebrochen, dachte, er komponiere nun seine Zehnte. Es war jedoch die Neunte, seine Musik des Abschieds, der Todesahnung. Er starb 1911 und hat sie selbst nicht mehr gehört. Von einer Zehnten ist nur das Adagio vollendet, Skizzen für weitere Sätze wurden nach seinem Tod ergänzt, sie werden auch aufgeführt und klingen doch seltsam hohl, kaum authentisch.

Arnold Schönberg hat das Rätsel um die Neunte Mahlers, und also um Beethovens und Bruckners Neunte zu fassen gesucht und geriet dabei in mystische Regionen. In der Prager Mahler-Rede, die er bald nach dessen Tod hielt, hat er gesagt: "Es scheint, die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muss fort. Es sieht aus, als ob uns in der Zehnten etwas gesagt werden könnte, was wir noch nicht wissen sollen, wofür wir noch nicht reif sind. Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe." Schönberg spekulierte weiter: "Vielleicht wären die Rätsel dieser Welt gelöst, wenn einer von denen, die sie wissen, die Zehnte schriebe. Und das soll wohl nicht so sein." Schönberg schrieb keine Symphonien.

© SZ vom 28.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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