Anarchismus:Herr Rossi sucht das Glück

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Im Jahr 1890 brach der italienische Visionär und Anarchist Giovanni Rossi (rechts) von Genua aus auf, um im fernen Brasilien eine experimentelle Kommune jenseits der bestehenden Gesellschaft zu gründen. (Foto: oh)

Keine Gesetze, kein Geld, dafür freie Liebe: Der Italiener Giovanni Rossi gründet 1890 eine anarchistische Kolonie in Brasilien. Doch das Experiment geht nicht lange gut.

Von Michaela Metz

"Theorien, Theorien, Theorien!", empörte sich Ende des 19. Jahrhunderts der leidenschaftliche Anarchist Giovanni Rossi aus Pisa über die sozialistischen Schriften seiner Zeit. Statt an Theorie denkt der junge Freigeist lieber ans Experimentieren, Ausprobieren.

"Wer sagt euch, ob die Menschen zu diesem Leben solidarischer Freiheit geeignet sind?" Schon mit 17 Jahren tritt der Sohn eines Anwalts, der 1856 zur Welt kam, der "Ersten Internationalen" bei. Zunächst praktiziert er als Tierchirurg, doch träumt er da schon von Anarchie und freier Liebe, will eine eigene Kolonie in Polynesien gründen.

Achtzehn Jahre bevor sich Paul Gauguin nach Tahiti einschifft. Doch während der Maler noch heute jedermann ein Begriff ist, versank Rossis Utopie in Vergessenheit.

Monogamie ist für Rossi eine "Masseneselhaftigkeit"

Rossi kämpft gegen die traditionelle Familie, die nur Egoismen und Kleingeisterei fördere. Eine "Masseneselhaftigkeit" nennt er das Dogma der monogamen Liebe. Anarchie und freie Liebe dagegen seien frei von "seelischer Gemeinheit und Verkommenheit, sondern vielmehr der höchste Ausdruck des Affektlebens." Für manche Mitstreiter ist das Eskapismus, in den Städten Europas hoffe man doch auf Revolten, Rossi verschwende Energie und Revolutionäre mit seinem "Koloniegründungsbazillus".

1877 gründet Rossi eine sozialistische Partei, das Königreich Italien überwacht ihn fortan polizeilich. Ein Jahr später, als der Anarchist Giovanni Passannante den italienischen König Umberto I. in Neapel mit einem Säbel attackiert, nimmt man Rossi fest. Bei einer Hausdurchsuchung seien gefährliche Waffen gefunden worden, heißt es - Rossis Operationsbesteck.

Als Rossi dann am 20. Februar 1890 von Genua aus aufbricht, um seine Ideen in die Praxis umzusetzen, geht er nicht nach Polynesien, sondern nach Brasilien. Er schafft es, den brasilianischen Kaiser Dom Pedro II. für die erste anarchistische Kommune des Landes zu begeistern. Eine Art Labor.

Benannt nach der Figur eines Romanmanuskripts, das Rossi 1878 verfasst hatte: Cecília. Rossis Ansatz ist ergebnisoffen. Das "Labor" müsse natürlich außerhalb jener Gesellschaft liegen, die es zu verändern gelte. Ob eine Gemeinschaft auch ohne Staat und ohne Herrschaft existieren kann, lässt sich eben nur ohne Staat und Herrschaft, ohne eine bürgerliche Gesellschaft überhaupt herausfinden.

Die Einwohner von Cecília sollen deshalb ohne Gesetze und frei von jeglicher Autorität leben. Auch Geld gibt es in der Kommune nicht.

Kaiser Pedro II. verspricht dem Italiener 1000 Hektar Ackerland. Doch wenig später wird er gestürzt und die Republik Brasilien gegründet. Die schert sich nicht um die Zusagen des ehemaligen Monarchen. Aber Rossi gibt nicht auf, er kauft selbst das Land, etwa 100 Kilometer entfernt von Curitiba, der Hauptstadt des Bundesstaates Paraná.

"Architektonisch ist unser Dorf ein kärgliches Ding", schreibt er in seinen "Aufzeichnungen über eine experimentelle anarchische Gemeinschaft". Es gibt nur 20 Blockhütten längs einer Straße und rund um einen Platz sowie eine Gemeinschaftsbaracke, eine Schule, eine Getreidemühle, einen Fischteich und eine Arztstation. Ein Jahr später, im Juni 1891, zählt die Kolonie schon 250 Siedler.

Rossis Diskurs der freien Liebe ist seiner Zeit voraus, auch was die Stellung der Frau angeht. Sie allein sei die Herrin ihrer Gedanken, ihrer Empfindungen, ihres Körpers. "Ohne Form soll der Kuss sein, keine sozialen Regelwerke sollen die Liebe abschnüren, inkriminieren." Rossi nennt dieses Ideal den "amorphen Kuss".

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Immer wieder geißelt er die traditionelle Familie als Sediment der bürgerlichen Gesellschaft. Sie sei der Kern allen Übels: "Wenn es mir gestattet wäre, nach Belieben eine der größten Plagen aus der Welt zu schaffen - die Religion oder die Wanderheuschrecken, das Privateigentum oder die Cholera, den Krieg oder die Stechmücken, das Vaterland oder das Sumpffieber -, würde ich es vorziehen, die Familie abzuschaffen", schreibt er.

Denn sie sei unvereinbar mit dem sozialistischen Leben. Nachzulesen in einem jüngst auf Deutsch erschienenen Band mit Briefen und Schriften von Rossi (Verlag Das kulturelle Gedächtnis, Berlin 2018).

Konkret manifestiert sich Rossis Ideal in einer ménage à trois mit der von ihm verehrten Genossin Eleda und ihrem Mann Annibale. Gleichzeitig schimpft Rossi über "die Scharlatane der Moral und all jenes zahllose Geschmeiß, welches den menschlichen Charakter von jeher systematisch vertiert hat". Rossi entwirft sogar einen Fragebogen, "um einige psychologische Daten über die Frage der freien Liebe festzustellen".

Doch nach vier Jahren Kommune scheitert das Experiment der Colônia Cecília. Hauptgrund ist die Armut, zeitweise hungern die Siedler sogar. Zudem schafft die ungewohnte Freiheit heftiges Konfliktpotenzial unter Männern und Frauen.

Rossis Geschichte lieferte Stoff für Romane und das Fernsehen

Die Geschichte Rossis inspirierte später zu mehreren Romanen und einer Telenovela. Unter dem Titel "Anarquistas, Graças a Deus" feierte sie in den Achtzigerjahren im brasilianischen Fernsehen Erfolge. Der Ort selbst ist heute verlassen, wenig deutet mehr auf das erste anarchistische Experiment Brasiliens hin.

1907 kehrt Rossi nach Italien zurück und arbeitet in San Remo als Tierarzt. Doch wird er erst 1939, mit 83 Jahren, von der Polizei aus der schwarzen Liste gestrichen. 2016 wurde in Palmeira, dem Nachbarort der einstigen Kolonie, ein Denkmal zu seinen Ehren errichtet.

In der nahe gelegenen Bar "Colonia Cecilia" findet sich neben eiskaltem Bier auch eine Auswahl anarchistischer Literatur und alte Fotos der italienischen Liebesabenteurer.

© SZ vom 09.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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