Vierschanzentournee:In der Brechstangenfalle

Lesezeit: 4 min

Selten sind derart viele große Skispringer so früh gescheitert wie in diesem Jahr. Die Ursachen für die allgemeine Verkrampfung sind vielfältig, auch der Sprungstil des Japaners Ryoyu Kobayashi dürfte eine Rolle spielen.

Von Volker Kreisl, Bischofshofen

Um die Podestplätze der Vierschanzentournee rangen 2019 ganz andere Springertypen als in den Jahren zuvor. Ryoyu Kobayashi aus Japan, Markus Eisenbichler (Siegsdorf) und Stephan Leyhe (Schwalefeld) waren vor dieser Saison noch zu keinem Ruhm gekommen, und bekannt nur in ihrer Heimat. Umgekehrt stand schon vor dem Finale in Bischofshofen fest: Diese Tournee wurde zur großen Enttäuschung von besonders vielen Siegern von früher. Ein Überblick.

Andreas Wellinger. (Foto: Daniel Karmann/dpa)

Kater nach dem Olympiasieg

Goldgewinner stehen in der folgenden Saison unter spezieller Beobachtung. Die aktuelle Misere der besten Skispringer veranschaulicht daher gerade besonders Andreas Wellinger aus Ruhpolding, der Olympiasieger von 2018, der bei dieser Tournee zweimal gleich im ersten Durchgang gescheitert war. Seine Sprünge wirkten verkrampft, nach der Landung ließ er den Kopf hängen, winkte ab und schaute ins Leere. Dabei sind die Gründe für Wellingers Tief nicht schwer zu orten. Womöglich leidet er immer noch am Olympiakater. Er nutzte die Zeit nach dem großen Erfolg zum Ausspannen und auch zu Sonderreisen, wie mit dem FC Bayern München zum Trainingslager in die USA. Doch Krisen kennt er bereits. Nach seinem ersten Olympiasieg 2014 mit dem Team hatte Wellinger eine schwere Zeit. In Kuusamo in Finnland war er kapital gestürzt und brauchte zwei Jahre, um seine Form zu sanieren. In den vergangenen zwei Jahren erwies er sich dann als einer, der zu Winterbeginn schwächelt und im Januar wieder weit springt, und sich nun mit dem letzten Sprung in Bischofshofen wieder verbesserte. Wellinger ist gerade am tiefsten gefallen, doch er steigt vielleicht auch am schnellsten wieder auf.

Piotr Zyla. (Foto: Stanko Gruden/Getty Images)

Polnische Pointen

Weniger prominent, aber doch ein ernst zu nehmender Gegner für den Tournee-Favoriten Kobayashi war der Pole Piotr Zyla. Zwei Zahlen stellen dar, was passiert ist: Immer noch ist Zyla Zweiter im Gesamtweltcup, in der Tourneewertung landete er aber auf Rang 19. Bis Oberstdorf hatte er alles gezeigt, was einen guten Springer ausmacht: pünktlicher Absprung, schnelle und stabile Fluglage, saubere Landung. Sein Trainer Stefan Horngacher führte Zylas spätes Karrierehoch auch auf innere Reife zurück. Zyla ist ja ein lustiger Typ, für einen Springer vielleicht etwas zu lustig. Wegen seiner Pointen wurde er von polnischen Reportern stets umlagert, bis Horngacher Zylas Rolle als "Kasper" nervte und die Interviews im Sinne der Konzentration reduzierte. Alles schien gerichtet zu sein für seinen ersten Einzelerfolg, doch seit Tourneebeginn gelang Zyla immer weniger. Rang sechs, elf, 42 und 13 - er war wohl das erste Opfer des überragenden Kobayashi. Schon in Oberstdorf wirkte er gehemmt, Horngacher sagte: "Er wollte wohl zu viel." Nicht selten geraten Springer dann ins Grübeln und versuchen es schließlich mit viel Vorlage und Risiko - mit der Brechstange. In Innsbruck verpasste Zyla sogar den zweiten Durchgang, und weil sein Landsmann Kamil Stoch, der dreimalige Olympiasieger und Gewinner der vergangenen beiden Tourneen, für seine Verhältnisse schwächelte, zudem Dawid Kubacki in Innsbruck zurückfiel, war diese Tournee für alle Polen alles andere als witzig.

Stefan Kraft. (Foto: Lisi Nieser/Reuters)

Ohne Gefühl und Vertrauen

Ein weiteres Beispiel für die Brechstangen-Falle ist der Österreicher Stefan Kraft, 25. Der Tourneesieger von 2015, später Weltmeister, Skiflug-Weltrekordler und einer der erfahrensten Akteure, gibt Rätsel auf. Nach mittelmäßigem Saisonbeginn steigerte er sich zunächst, überraschte alle in Oberstdorf mit Platz drei, verpasste in Garmisch den zweiten Durchgang und kam in Innsbruck als Zweiter und in Bischofshofen als Dritter zurück. Nicht einfach war das Auf und Ab und Auf für seine Fans. "Kraft flog wie eine Silvesterrakete!", titelte die Kronenzeitung nach Oberstdorf. - "Das war nichts!", hieß es nach Garmisch. - "Nur Überflieger für Kraft zu gut!" nach Innsbruck. Doch anders als Zyla und weitere verkrampfende Springer wollte der erfahrene Kraft wohl nicht mit Gewalt den Überflieger Kobayashi einholen. Die Ursache lag bei ihm selber. "Mein Körpergefühl war weg", sagte er. Womöglich hatte ihn sein Einbruch in Garmisch vor einem Jahr noch beschäftigt. Oder dass er seit Jahren der Einzige ist, der die Krisen seines Verbandes überdeckt. Michael Hayböck, der Tourneezweite von 2015, stand am Ende nur auf Platz 26 der Wertung, er hatte nach guten Trainingsleistungen im Herbst plötzlich das Vertrauen in sein Material verloren. Die anderen Österreicher, Daniel Huber, Philipp Aschenbach oder Manuel Fettner, sind auch nicht stabil, und Gregor Schlierenzauer, der Weltcup-Rekordsieger, fehlte bei der Tournee: Er trainiert wieder an den Grundlagen eines neuen Sprungs. Bleibt nur Kraft, dem aber auch mal das gute Gefühl verloren geht.

Aufs Ganze gegangen

Johann André Forfang. (Foto: Christof Stache/AFP)

Im nächsten großen Skisprungland ist man nicht sicher, was überwiegt: maßlose Enttäuschung oder doch spontane Freude? Mit Johann André Forfang hatten die Norweger auch einen Kandidaten für den Gesamtsieg. Ähnlich wie der Pole Zyla oder der Deutsche Karl Geiger schien Forfang in der ersten Saisonphase einer lästigen Rolle entschlüpft zu sein. Lange nur ein Ergänzungsspringer führte er nun das Team an, aber in Oberstdorf war schon Schluss. Seine Tourneebilanz am Ende: die Plätze 25, 22, 21 und 17. Auch Forfang war gegen Kobayashi aufs Ganze gegangen und hatte verloren. Das Gegenteil eines Kobayashi-Opfers war dafür der Norweger Andreas Stjernen, er hatte, ohne unter Erwartungen zu stehen, immer mehr Sprunggefühl entwickelt. Dass der aktuelle Skiflug-Weltmeister, Forfangs und Stjernens Teamgefährte Daniel And ré Tande, so weit zurücklag, hat wiederum überhaupt nichts mit Kobayashi zu tun. Tande erkrankte im Sommer am Stevens-Johnson-Syndrom, einem gefährlichen Infekt, der mit Mitteln behandelt wurde, die auf der Dopingliste stehen. Entsprechend groß ist nun sein Rückstand.

Peter Prevc. (Foto: Manuel Geisser/imago)

Hoffnungslose Slowenen

Die Goldgewinner von einst ringen also noch um ihre Verfassung, sprangen aber bis zum Schluss mit bei der Tournee. Denn ein Umschwung der launischen Form kann jederzeit kommen. Zwei aus der Liste der prominenten Verlierer hatten allerdings nicht einmal mehr diese Hoffnung. Peter Prevc, 26 und slowenischer Tourneesieger von 2015, und sein jüngerer Bruder Domen, 19, waren in Garmisch ausgestiegen und versuchen nun, zu Hause wieder fit zu werden. Ihre Krise hat viele Einflüsse, Peter hatte im Frühjahr eine Operation mit nachfolgendem Infekt, und Domens Flugstil ist tollkühn und deshalb sehr anfällig. Wann die beiden Slowenen zurückkommen, ist ungewiss. Aber der Gedanke, dass dieser Japaner, dieser Ryoyu Kobayashi, eh weiter springt, hilft auch nicht gerade auf dem langen Weg zurück aus der Formkrise.

© SZ vom 07.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: