Vierschanzentournee:Endlich von Tröten begleitet

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Bei der 67. Vierschanzentournee zählen neben Vorjahressieger Kamil Stoch drei bisherige Außenseiter zu den Favoriten: Ryoyu Kobayashi, Piotr Zyla und Karl Geiger könnten für eine Überraschung sorgen.

Von Volker Kreisl

Mit der Qualifikation und dem Springen am Samstag und Sonntag beginnt die Vierschanzentournee in Oberstdorf. Selten hatte die Serie eine derart vielschichtige Favoritengruppe - mit einem Talent aus Übersee, das alle überrascht, einem dreimaligen Olympiasieger, der schon viele weitere Titel gewann, und einigen Mittelklassespringern in der Form ihres Lebens.

Favorit 1: Ryoyu Kobayashi

(Foto: Sammy Minkoff/imago)

Dieser Ablauf hat sich eingeprägt: Ryoyu Kobayashi sitzt als Letzter auf dem Startbalken, justiert die Brille, fährt an, hebt ab und fliegt über die Schanze, bis die grüne Linie der Bestweite unter ihm auftaucht. Nun warten alle darauf, dass der Japaner mal etwas Schwäche zeigt, doch sogleich folgt der Moment, in dem klar wird, dass daraus wieder nichts wird: Denn Kobayashi ist schon drüber über der grünen Linie, sogar noch ein paar Meter weiter, und gewinnt.

22 Jahre ist er alt und sehr begabt, und momentan ist sein besonders weiter Flug bis in den weißen Bereich des Auslaufs das Bild der Saison. Vier Mal ist es ihm gelungen, als Bester des ersten Durchgangs und somit letzter Starter im zweiten alle anderen zu distanzieren. Zwei Mal erreichte er noch das Podest, nur neulich in Engelberg hatte er einen schlechten Tag, kam aber auch noch auf Platz sieben. Das alles deutet darauf hin, dass Kobayashi die 67. Vierschanzentournee gewinnen wird, womöglich mit großem Abstand. Im Gesamtweltcup hat er ja auch schon 556 Punkte, der Nächstbeste 111 weniger.

Im vergangenen Winter war der jüngere Bruder von Junshiro Kobayashi, 27, noch nicht sonderlich aufgefallen, Platz 24 der Saisonwertung liegt in der Grauzone. Diejenigen aber, die Woche für Woche auf den Trainergerüsten des Weltcups stehen und einen Sprung nach dem anderen vor Augen haben, die erkannten Kobayashis Entwicklung schon früher. Auszusetzen gab es an seinen Vorführungen aus technischer Sicht nichts, "er macht automatisch viele Dinge richtig", sagt Stefan Horngacher, der Coach der Polen.

Der Rest der Weltcup-Springer hat allerdings noch Grund zur Hoffnung. Denn der Drüberflieger aus der Provinz Iwate mag viele Dinge richtig machen, aber nicht alle. Seine Haltung in der Luft ist manchmal unsicher, und um zum Beispiel auf Rückenwind zu reagieren, fehlt ihm noch die Erfahrung. Die Tournee 2019 hat außerdem vier unterschiedliche und teils unangenehme Schanzen, für eine Umstellung ist kaum Zeit. Denn in diesem Jahr ist das Programm sehr straff, zwischen den acht Sprungtagen liegt am kommenden Mittwoch nur ein Ruhetag.

Favorit 2: Piotr Zyla

Die Karriere des wohl hartnäckigsten Gegners von Kobayashi stellt das Gegenteil von der des Japaners dar. Während der junge Springer-Exot auf eine glorreiche Zukunft blickt, schaut Piotr Zyla auf eine mittelglorreiche, vielleicht sogar etwas verschenkte Vergangenheit zurück. 31 Jahre alt ist der Mann aus Cieszyn im Süden Polens bereits, und er hat in dieser Zeit viel erlebt, aber nicht die ganz großen Taten als Einzelspringer vollbracht.

Seine beste Zeit begann spät, 2017 gewann er Bronze bei der WM in Lahti in Finnland, dort wurde er auch Weltmeister mit der Mannschaft. WM-Team-Medaillen holte er schon früher, seine Einzelleistungen dagegen waren lange überschaubar. Im Weltcup gewann er nur einmal, seine beste Gesamtplatzierung schaffte er Ende des Winters 2017: Rang elf. Seit 2011 ist er dennoch immer im polnischen Weltcupteam dabei. Solche Zahlen deuten darauf hin, dass einer großes Talent hat, aber nicht unbedingt den Willen, auch alles für eine große Karriere zu tun. Zyla, erzählt sein Cheftrainer Horngacher, begnügte sich irgendwie mit der Rolle als Teil eines guten Teams, weshalb er ihn zu Beginn dieser Saison beiseitenahm, und zu konzentrierterem Arbeiten zwang. Denn Horngacher ahnte, dass in Zyla womöglich ein Spätzünder steckte.

Die Arbeit fruchtete schnell, Zyla packte offenbar der Ehrgeiz. Er begann den Winter so stark wie noch nie. Seit drei Wochen steht er auf Platz zwei im Gesamtweltcup, hat sieben Top-Ten- und fünf Podestplätze, sowie 80 Weltcup-Punkte Vorsprung auf Teamkollege Kamil Stoch. Damit hat der späte Zyla zwar noch keinen Einzeltitel, ist nun aber der offizielle erste Favoritenherausforderer.

Favorit 3: Kamil Stoch

(Foto: imago)

Kamil Stoch ist dreimaliger Einzel-Olympiasieger, er wurde unter anderem schon vor sechs Jahren Weltmeister auf der Großschanze, er hat 31 Weltcupspringen gewonnen und zweimal die ganze Saisonwertung. Und ja, den goldenen Vierschanzen-Adler gewann er auch schon zweimal mit seinen Gesamtsiegen 2017 und 2018. Zum Tourneefavoriten machen ihn aber weniger diese Ruhmestaten als Aktionen wie jene in Oberstdorf, exakt vor einem Jahr.

In der Qualifikation zum Auftakt der Vierschanzentournee war Stoch mit einem scheinbar miserablen Sprung nur 28. geworden, tatsächlich hatte er bei heftigem Rückenwind das Beste aus seiner Lage gemacht. Stoch sollte auf hinteren Plätzen nie unterschätzt werden, auch in der Saison braucht er oft Wochen, ehe er seine Topform für den Winter erreicht. Aber er hat die Fähigkeit, sich über versteckte Erfolge bei widrigen Bedingungen zu motivieren. Der Rest der vergangenen Tournee ist bekannt, Stoch gewann diese per Grand Slam, also mit vier Einzelsiegen.

Es bedeutet also nichts, wenn der Pole noch keinen Weltcup in diesem Winter gewonnen hat und noch etwas wackelig wirkt. Von allen Top-Ten-Springern hat er die meiste Erfahrung und die beste Fähigkeit, sich auf Schwierigkeiten einzustellen. Stoch gilt wieder als Mitfavorit, und ein neues Ziel böte sich auch an: Als Erster seit dem Norweger Björn Wirkola (1967 bis 1969) könnte Stoch drei Tourneen nacheinander gewinnen.

Favorit 4: Karl Geiger

An dieser vierten Favoritenstelle steht meist auch ein bekannter Name. Ein Österreicher wie Stefan Kraft oder ein Olympiasieger wie Andreas Wellinger aus Ruhpolding. Aber die sind alle in mittelmäßiger Form, laut Weltcupstatistik muss hier somit Karl Geiger erwähnt werden, der 25-Jährige aus Oberstdorf, den jenseits des Allgäus nur strebsame Beobachter kennen, der aber in dieser Saison tadellos gestartet war, dann sieben Top-Ten-Plätze errang und kürzlich seinen ersten Weltcupsieg. Der plötzlich erstarkte Geiger ähnelt damit dem unscheinbaren Piotr Zyla. Anders als den Polen kann man Geiger aber noch am Beginn einer erfolgreichen Karriere verorten. Er fiel zwar bislang nicht mit übergroßem Ehrgeiz auf, dafür mit Ruhe und einer gewissen Ergebenheit gegenüber dem Unvermeidlichen, was im Skispringen auch locker machen kann. Schon vor dem Winter hatte er die Sommer-Grandprix-Serie als Zweiter abgeschlossen, "er hat einen richtigen Schub gekriegt", sagte Bundestrainer Werner Schuster. Nun könnte auch Geiger, der zuletzt Olympia-Teamsilber gewann, die Tournee spannend machen. Behält er auf seiner Heimschanze in Oberstdorf trotz des zu erwartenden Trötenlärms die Nerven, ist ihm alles zuzutrauen. Im Übrigen steht er an der Spitze eines Feldes von vermeintlichen Mittelklassekräften, das gerade die Top-Ten-Liste erobert hat: Kollege Stephan Leyhe zählt dazu, aber auch Johann André Forfang (Norwegen) oder Jewgeni Klimow (Russland). Der vierte Favorit dieser Tournee hat viele Namen.

© SZ vom 28.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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