Video-Schiedsrichter:Glasklar nicht genug gesehen

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Regelwidrig runtergezogen? In den Gegner reingelegt? Oder eher über den Fuß des Mitspielers gestolpert? Die heiß diskutierte Elfmeterszene mit VfB-Stürmer Kalajdzic, umklammert vom Gladbacher Bensebaini. (Foto: Wolfgang Frank/Eibner/imago)

Warum meldet sich Köln? Nach dem 2:2 zwischen Stuttgart und Gladbach wird über den Videoelfer für den VfB in der Nachspielzeit debattiert - Schiedsrichter Brych gibt später Zweifel an seiner nachträglich korrigierten Entscheidung zu .

Von Christoph Ruf, Stuttgart

Ein spannendes Spiel war gerade zu Ende gegangen, das Ergebnis wirkte leistungsgerecht. Dennoch bestimmte nach dem 2:2 zwischen Stuttgart und Mönchengladbach mal wieder ein Elfmeterpfiff - inklusive Videobetrachtung - die Diskussionen. Es ging um die Frage, warum der Kölner Keller ins Geschehen eingreift, wenn bei der Entscheidung des Schiedsrichters, das Spiel ohne Strafstoß weiterlaufen zu lassen, keine "klare Fehlentscheidung" vorliegt. Bibiana Steinhaus, die VAR-Zuständige des Tages, bat Referee Felix Brych in der Nachspielzeit dennoch vor den Bildschirm, woraufhin der seine Entscheidung revidierte - zu Gunsten des VfB, der per Elfmeter noch ausglich. Und zu Ungunsten der Gladbacher, die im Kampf um den Anschluss an die Champions-League-Plätze mal wieder einen Sieg kurz vor Schluss aus der Hand gaben.

Was bei der Szene zuvor überhaupt passiert war, ließ sich erst nach vielen Wiederholungen der Fernsehbilder rekonstruieren: Gladbachs Verteidiger Rami Bensebaini hatte VfB-Stürmer Saša Kalajdzic in der Rückwärtsbewegung bei einer hereinfliegenden Flanke mit beiden Händen von hinten umklammert - grundsätzlich fahrlässig im Strafraum. Zu Fall kam der Stuttgarter allerdings primär durch den gleichzeitigen Kontakt mit dem Fuß des eigenen Mitspielers Waldemar Anton.

Erst in zweiter Linie war die vermaledeite Schwerkraft schuld. Und wenn ein zwei Meter großer Mensch eine Rückwärtsbewegung vollführt und dessen Oberkörper zusehends nach hinten rutscht, bekommen selbst Leistungssportler Probleme mit der Statik. Auch ungeschickt agierende Verteidiger wie Bensebaini überlegen sich dann gut, ob sie sich von so vielen Pfunden im freien Fall niederstrecken lassen - oder ob sie nicht doch lieber die Hände am taumelnden Koloss lassen ...

Den Tritt von Anton habe er "nicht gesehen, auch nicht am Bildschirm", sagt Brych.

Immerhin war die Faktenlage diesmal schnell relativ zweifelsfrei ermittelt. Die Mehrheit der professionellen Exegeten war nach dutzenden Wiederholungen der Meinung, dass man diesen Elfmeter a) bei Sichtung der Szene in Echtzeit hätte pfeifen können - dass der Nicht-Pfiff von Brych aber b) keine solch gravierende Unterlassungssünde war, dass Köln hätte eingreifen müssen. Und c) zweifelte sogar der Schiedsrichter selbst später seine Entscheidung, an, insbesondere, weil er am Monitor den Fußkontakt der beiden Stuttgarter gar nicht erkannt hatte.

Eine verhärtete Haltung nahmen natürlich die Gladbacher ein, die zuvor durch den überragenden Stindl (35./Elfmeter) und Zakaria (61.) zweimal vorne lagen, sich als Liga-Mannschaft mit den meisten verspielten Führungen der Saison aber verständlicherweise ärgerten, dass die Intervention aus Köln das 2:1 gekostet hatte. Von einer "absoluten Frechheit", sprach Jonas Hofmann, er wisse gar nicht "wofür wir eigentlich einen Video-Schiedsrichter haben." Auch Trainer Marco Rose fragte grantelnd, "warum da wieder Köln dazukommt." Das jedoch war ungerecht gegenüber Videoschiedsrichterin Steinhaus, die schließlich eine Regel zur Anwendung bringen muss. Und wie soll die arme Frau innerhalb von Sekundenbruchteilen entscheiden, ob die vermeintliche Fehlentscheidung eine gravierende oder doch keine "glasklare" war?

Brych entscheidet nach Blick auf die Videobilder Elfmeter im Spiel Stuttgart gegen Gladbach im Januar 2021. (Foto: Michael Weber/imago images/Michael Weber)

Diese komplizierte Spitzfindigkeit, die für das Eingreifen des Kölner Keller entscheidend sein soll, gehört wohl zu den Geburtsfehlern der VAR-Installation. Daraus ableiten lässt sich ein Glaubenskrieg zwischen den Befürwortern der Tatsachenentscheidung - und denjenigen, die der Video-Filmerei zugute halten, dass man zum Beispiel keine Tore mehr ertragen muss, die aus klarer Abseitsposition erzielt werden (wie zuletzt in beiden Pokalspielen der Woche passiert, die ohne VAR stattfanden).

Diffus blieb in Stuttgart die Rolle von Brych, der in der gesamten Spielzeit nicht immer eine klare Linie verfolgte. Nach dem Spiel brachte er den Mut auf zuzugeben, dass die Geschehnisse in der Nachspielzeit eher für Verwirrung und Groll als für Gerechtigkeit gesorgt hatten. "Heute kann Stuttgart mit dem Elfmeter glücklich sein", zweifelte Brych die Richtigkeit Richtigkeit seiner nachträglichen Entscheidung deutlich an. Im Kleingedruckten klang dabei auch eine Distanzierung von Steinhaus an: "Mein Gefühl war heute ganz gut auf dem Platz, in der gesamten Spielleitung", betonte Brych - was wohl verklausuliert heißen sollte: Ich lag auch richtig mit meiner ersten Einschätzung (kein Elfmeter!) - hätte sich Köln heute mal besser nicht eingemischt ...

Hätte sich Brych selbst allerdings die Zeitlupen am Monitor etwas länger angeschaut, dann hätte er selbst herausfinden können, dass der der Sturz von Kalajdzic eher eine Stuttgarter Co-Produktion war. Ob ihm die Kameraperspektive, die den Tritt von Anton gegen den Mitspieler zeigte, eventuell am Spielfeldrand vorenthalten worden war? Diesen Tritt habe er "nicht gesehen, auch nicht auf dem Bildschirm - erst später, mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung", sagte Brych. Das klang erneut nicht nach einem großen Lob für den Videokeller.

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