VfB Stuttgart:Hallo Liga, bitte warten!

Lesezeit: 3 min

So schnell kann’s gehen: Nach Grifos Freistoß und Petersen Hacken-Ablage schiebt Freiburgs Sallai (Nummer 22) den Ball zum 2:0 ins Stuttgarter Tor. (Foto: Michael Weber/imago images)

Mutig oder übermütig? Der junge VfB macht die Bundesliga zum Abenteuerspielplatz. Beim 2:3 gegen den SC Freiburg zeigen sich die Chancen und Gefahren dieses Modells.

Von Christof Kneer

Vor dem Spiel hat ein Reporter von Christian Streich wissen wollen, was der Unterschied zwischen Freiburg und Stuttgart sei. Streich hat ein bisschen überlegt, durchaus vielversprechend sah das aus, denn bei einem Teilzeitphilosophen wie ihm weiß man ja nie, ob jetzt nicht gleich ein Gedanke folgt, den noch nie ein Mensch auf der Welt gedacht hat. Er sei am Morgen ein bisschen mit dem Fahrrad durch Stuttgart gefahren, sagte Streich also, und dabei sei ihm aufgefallen (Pause, Spannung, Trommelwirbel): "In Stuttgart gibt es höhere Gebäude."

Vielleicht hat nicht jeder gleich verstanden, was der Trainer des SC Freiburg mit dieser imposanten Erkenntnis ausdrücken wollte. Er wollte die gute, alte Geschichte erzählen, hier die große baden-württembergische Landeshauptstadt, dort die kleine' Freiburger, wie Streich immer sagt, das sympathische Gartenhäuschen unter all den protzigen Wolkenkratzern. Schon vor dem Spiel ahnte man, dass es sich dabei um vorsätzliches Tarnen & Täuschen handeln könnte, und 90 Minuten später war Streich tatsächlich der Falschaussage überführt: Die Kleinen, das waren die anderen.

Es war der VfB Stuttgart, Gastgeber dieses Spiels und Rückkehrer in die Bundesliga, der wie eine sympathische, kleine Mannschaft spielte: ein bisschen gutgläubig (man könnte auch sagen: naiv), aber immerhin erkennbar begabt. Die Freiburger hingegen spielten feinsten Nils-Petersen-Fußball: Sie wirkten so routiniert und abgebrüht wie ihr Mittelstürmer und dabei stets konzentriert auf einen guten Geschäftsabschluss. Wie man das in Städten mit Wolkenkratzern halt so macht.

Die Idee ist tief in der Klubkultur verankert: mit jungen Spielern unbekümmerten Fußball spielen

Am Ende kam dabei ein Ergebnis heraus, das sämtliche Lesarten verträgt. Der 3:2-Auswärtssieg der Freiburger war gerechtfertigt, weil sie die Großen in dieser Partie waren, weil sie die Naivitäten des Kleinen mit kaltblütiger Lässigkeit zu einem 3:0-Vorsprung (Petersen, 8., Sallai 26., Grifo, 48.) nutzten und sogar noch zwei Abseitstore erzielten. Gleichzeitig war der Sieg auch etwas glücklich, weil die Stuttgarter in der Schlussphase dem 3:3 nahe waren. Sie hätten im Laufe des Spiels auch mehrmals das 1:1 erzielen können oder zumindest das Anschlusstor zum 1:2. Sie hätten in der 95. Minute einen Elfmeter bekommen können und in der 75. einen bekommen müssen - Freiburgs Lienhart hatte den Ball mit abgespreiztem Arm so abgewehrt, dass es in zehn vergleichbaren Fällen elfmal Elfmeter gibt. Verblüffenderweise machte Schiedsrichter Cortus keinerlei Anstalten, vom Videoreferee Gebrauch zu machen, und es spricht für Stuttgarts Sportdirektor Sven Mislintat, dass er die Szene nicht ins Zentrum seiner Analyse rückte. Er wünsche sich beim Thema Handspiel für die Zukunft "eine einheitliche Linie", sagte er nur, "wenn es zum Glücksspiel avanciert, habe ich ein Problem damit". Er verzichtete auf eine Abwandlung des Christian-Streich-Klassikers: Mit uns kleine Stuttgarter könnet ihr's ja mache!

Es hat nur einen Spieltag gebraucht, um dem VfB diese schonungslose Erkenntnis beizubringen: Die Liga hat sich weiterentwickelt in den Jahren, in denen der VfB gegen den Abstieg kämpfte oder tatsächlich abstieg. Teams wie Freiburg, die früher unter der Würde des großen VfB gewesen wären, haben sich in dieser Zeit jene Wettbewerbscoolness antrainiert, die der von 1000 Trainern und Sportdirektoren durchgeschüttelte VfB erst wieder lernen muss.

"Lehrgeld" habe man bezahlt, sagte Kapitän Gonzalo Castro; "hergeschenkt" habe man die ersten beiden Gegentore. "Vielleicht ein bisschen dumm" habe man sich da angestellt, ergänzte Daniel Didavi. Und Trainer Pellegrino Matarazzo fand das 0:1 (Flanke, Kopfball, Tor) und 0:2 (einstudierte Freiburger Freistoßvariante) "naiv verteidigt" und das 0:3 "zu billig".

Man habe aber "nicht nur gesehen, was wir nicht können, es gab auch viele positive Aspekte". Noch kann niemand sagen, ob der Ansatz, den der Sportchef Mislintat für den VfB gewählt hat, mutig oder übermütig ist. Die Stuttgarter machen sich gerade vorsätzlich klein, sie versuchen sich an der Wiederbelebung einer Idee, die tief in der Klubkultur verankert ist: Sie machen die Bundesliga zum Abenteuerspielplatz und wollen mit sehr jungen Spielern sehr unbekümmerten Fußball spielen. Tatsächlich waren Potenzial, Moral und jugendlicher Enthusiasmus am Ende ebenso unübersehbar wie das Talent der beiden Torschützen. Sasa Kalajdzic (1:3., 71.) und Silas Wamangituka (2:3., 81.) strahlen schon jetzt vieles von dem aus, was ein Angreifer in dieser Liga können muss (natürlich auch der Argentinier Nicolas Gonzalez, der aber noch ein paar Wochen verletzt fehlt). Im Preis inbegriffen sind aber auch noch diverse Kindereien, fatalerweise in beiden Strafräumen: So vergaben Wamangituka, 20, Massimo, 19, und Klimowicz, 20, vorne in entscheidenden Momenten entscheidende Chancen; hinten leisteten sich alle zusammen entscheidende Unaufmerksamkeiten.

"Die anderen Vereine warten nicht auf uns, bis wir unsere Erfahrungen gemacht haben", sagt Didavi, 30, einer der letzten verbliebenen Routiniers. Es ist ein Luxus, Toptalente zu haben, die noch viel lernen können. Wenn sie aber nicht schnell genug lernen, könnte das in der höchsten Liga noch zum Luxusproblem werden.

© SZ vom 21.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: