U21-EM:Wie früher auf dem Bolzplatz

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Straßenfußball-Mentalität wurde in der DFB-Ausbildung vernachlässigt. Die U21 soll bei der EM auch wieder mit Intuition siegen - wie das geht, zeigt zum Auftakt Augsburgs Marco Richter.

Von Sebastian Fischer, Udine

Das Stadion in Udine war fast leer, deshalb hallten die Rufe besonders laut, bis unters Dach der großen Haupttribüne. Vor dem ersten Gruppenspiel der deutschen U21 bei der EM durfte man den Spielern am Sonntagabend bei den ersten 15 Minuten des Abschlusstrainings zusehen. Die Deutschen spielten zum Warmmachen Rondo, Vier-gegen-Zwei im Kreis. Felix Uduokhai war in der Mitte, der Verteidiger vom VfL Wolfsburg, und Mo Dahoud, der Mittelfeldspieler von Borussia Dortmund, spielte ihm den Ball durch die Beine. Die Kollegen brüllten vor Begeisterung.

Ein Beinschuss ist die Königsdisziplin beim Rondo, wer getunnelt wird, bleibt noch eine Runde in der Mitte. Ein Beinschuss - "Gurkerl" sagen dazu übrigens die Österreicher, "Waschmaschine" die Peruaner und "ein Ei legen" die Südkoreaner - ist auch die Königsdisziplin des Straßenfußballs. Auf jedem Bolzplatz auf der Welt ist er mindestens so viel wert wie ein Tor.

Man kann das albern und ineffektiv finden. Doch der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hat sich für das Gegenteil entschieden. Er wünscht sich den Straßenfußball zurück. Und das 3:1 der U21 gegen Dänemark zum EM-Auftakt war eine erste Bestätigung dafür.

Es war spät am Montagabend, Stefan Kuntz, Trainer der U21, in der Pressekonferenz eine Geschichte erzählte. Der frühere Nationalspieler ist für seine Geschichten berühmt, es darf gerne albern werden bei ihm. Aber diesmal schien er fast wehmütig zu erzählen. Er war gefragt worden, was für ihn jene "Bolzplatzmentalität" sei, die er vom zweimaligen Torschützen Marco Richter vor dem Spiel eingefordert hatte.

"Du kommst nach Hause", begann Kuntz, "die Mutter sagt, du sollst was essen. Du machst das widerwillig und schnell. Die Hausaufgaben, sagst du der Mutter noch beim Rausgehen, mach ich heute Abend. Du hast einen Ball unterm Arm, machst einen schnellen Sprint zum Bolzplatz und freust dich, dass die Kumpels da sind. Und dann spielst du einfach Fußball, wie es dir gefällt. Weil du einfach Spaß dran hast und dieses Spiel liebst."

Und wie er diese Geschichte so erzählte, stand die Frage im Raum: Gibt es so etwas heute überhaupt noch?

Zum Start der EM hat Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft, eine Etage höher als die U21 also, in der Zeitung Welt einen Gastbeitrag verfasst. Er beschrieb, was seiner Meinung nach getan werden müsse, damit die Nationalelf bald wieder in der Weltklasse mitspielt. Es ginge um "spürbare und konsequente Maßnahmen", so Bierhoff, "wir brauchen wieder mehr Variabilität, Spielfreude und Cleverness". Zum Beispiel sei es notwendig, den Straßenfußball zurück in die Vereine zu bringen - "eine Mentalität zu fördern, wie wir sie von früher auf dem Bolzplatz kannten: schnell, direkt, Individualität zulassend und Kreativität fördernd". Eine Mentalität, die verloren gegangen ist.

Das U21-Spiel gegen Dänemark war zunächst zäh, geprägt von Fehlern, die niemand auszunutzen wusste. Dann kam Marco Richter vom FC Augsburg - und hatte eine Idee. Er dribbelte am Strafraum entlang, passte quer, startete nach vorne, wollte den Ball zurückhaben und schoss - abgefälscht flog der Ball nach 28 Minuten zum 1:0 ins Tor. Richter schoss auch das 2:0 kurz nach der Halbzeit, nach einem schwachen Rückpass des Dänen Mads Pedersen, einem Lauf in den Strafraum und einem Haken. Und er bereitete das 3:0 nach einem Konter durch den Freiburger Luca Waldschmidt mit einem Steilpass vor.

Er glaube, sagte Kuntz, dass bei Richter "das Intuitive extrem ausgeprägt ist". Der Matchplan eines Trainers, erklärte er, dürfe nie verhindern, dass die Spieler einfach spielen wie früher auf dem Spielplatz. "Diese Bolzplatzmentalität macht man natürlich kaputt, wenn man zu viele Regeln aufstellt - oder einen zu engen Matchplan. Den Mittelweg muss man finden."

Richter ist nicht der Einzige im deutschen Kader, der wie auf der Bolzwiese spielen kann. "Wir haben mehrere", sagte Kuntz, er zählte Dahoud dazu, den Spaßvogel im Team, den Stürmer Waldschmidt, Levin Öztunali von Mainz 05 oder Florian Neuhaus von Borussia Mönchengladbach. Aber es ist vor allem Marco Richters Biografie, die zeigt, dass solche Fähigkeiten in den vergangenen Jahren offenbar nicht bevorzugt gefördert wurden.

In Augsburg, wo er spielt, seit er beim FC Bayern als 14-Jähriger fortgeschickt worden war, wussten sie immer um sein Talent. Aber auch sie waren nicht sicher, ob Richter es in der Bundesliga würde zeigen können. Er frühstückte lange Zeit nicht vor dem Training, um länger schlafen zu können. Er aß dafür gerne am Abend. Er suchte in der Augsburger U23 manchmal nach Ausreden, um dem Lauftraining zu entkommen. "Er hat an seiner körperlichen Fitness gearbeitet, das war nicht leicht, das weiß ich", sagte Kuntz. Er erzählte von vielen Gesprächen, die er mit dem Spieler geführt habe.

Richter, 21, der für Augsburgs U23 einmal sieben Tore in einem Spiel schoss, zeigte erst in der Schlussphase der abgelaufenen Saison erstmals als Bundesliga-Profi seine ganze Qualität. Zweimal trug er zwei Tore zu Siegen bei, in Frankfurt und gegen Stuttgart, sie sicherten dem FCA den Klassenverbleib. Die Tore gegen Dänemark waren seine ersten für die U21, in seinem überhaupt erst sechsten Junioren-Länderspiel. Erstmals nominiert wurde Richter für die U20. "Ich bin nicht so der typische Nationalspieler, ich war nicht in allen Jahrgängen dabei", sagte er zuletzt. Und er verneinte die Frage, ob er sich die Spiele der deutschen U21-Europameister von 2017 angesehen habe: "Ich war nicht so drin im Thema Nationalmannschaft."

Am Montag, als Richter als "Man of the Match" der Uefa so viele Interviews geben musste wie vielleicht noch nie zuvor in seinem Leben, sagte er über seine Karriere: "Als ich zu den Profis gekommen bin, bin ich allmählich ins Laufen gekommen."

Natürlich geht es für die U21 in Italien und San Marino vor allem um Erfolg, Deutschland ist Titelverteidiger, der Auftaktsieg hat die Ambitionen verdeutlicht. Der nächste Vorrundengegner ist am Donnerstag Serbien mit dem gerade aus Frankfurt zu Real Madrid gewechselten Stürmer Luka Jovic. Die Serben, laut Kuntz der stärkste Gruppengegner, verloren zum Auftakt 0:2 gegen starke Österreicher.

Es geht bei einem Nachwuchsturnier aber immer auch um die Art des Auftritts, um Entwicklung. Meikel Schönweitz, als Cheftrainer der U-Mannschaften für den Nachwuchs des DFB verantwortlich, hat sich in den vergangenen Monaten viel mit den jüngeren Jahrgängen beschäftigt. Die U19 verpasste die EM, die U17 schied in der Vorrunde aus. "Uns fehlen die letzten fünf Prozent, da geht's um Abgezocktheit, Widerstandsfähigkeit, Zielstrebigkeit", sagt Schönweitz: "Das macht den Unterschied aus, und das ist etwas Tiefgreifendes. Das hat sich in unserer DNA verfestigt. Da müssen wir dran arbeiten."

Über die U21 spricht er mit Zufriedenheit. Sie soll ein Beispiel für die Leistungsfähigkeit deutscher Fußballtalente sein. Und für die steht nun erst mal ein Spieler, den sie beim DFB lange nicht zu brauchen schienen. "Ich glaube nicht, dass ich allzu groß gefragt war in den U-Nationalmannschaften", sagte Marco Richter.

Und es gibt noch eine Pointe. Der DFB hat kürzlich Christian Wörns als U18-Trainer verpflichtet, früher Trainer von Augsburgs U23. Manuel Baum, bis April Bundesliga-Coach in Augsburg, soll künftig die U20-Nationalelf trainieren. Wörns und Baum waren jene zwei Förderer, die dem Straßenkicker Richter den richtigen Fußball beibrachten.

© SZ vom 19.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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