Deutsche Turner bei der WM:"Der Schmerz bringt mich nicht um"

Lesezeit: 3 Min.

Die deutschen Turner um Fabian Hambüchen reisen in einer Art Ausnahmezustand zur WM in Glasgow. (Foto: dpa)
  • Die deutschen Turner müssen bei der WM in Glasgow einigen Schmerzen trotzen.
  • Fabian Hambüchen turnte jüngst mit einem Cut am Oberarm, Marcel Nguyen mit Handproblemen.
  • Dass sie trotzdem antreten, soll eine Zitterpartie in der Qualifikation für Olympia verhindern.

Von Volker Kreisl

Man hört solche Sätze sonst von anderen Athleten, von Eishockeyspielern vielleicht, Boxern, oder - früher - von Fußballern: "Natürlich tut es weh, aber der Schmerz bringt mich nicht um", sagt Andreas Bretschneider. Es helfe ja nichts: "Wir müssen jetzt zeigen, dass wir Männer sind." Sein Trainer Andreas Hirsch hatte ihm echtes Mann-Sein schon vorher bescheinigt. Wenn einer so ein Dauerstechen im Ringfinger aushalte, sagte Hirsch, "dann der Breti".

Der Schmerz ist aber nicht nur der Begleiter von Bretschneider, sondern von fast allen Mannschaftskollegen. Fabian Hambüchen zum Beispiel winkte nur ab, als er vor drei Wochen in Stuttgart gefragt wurde, ob es nicht sehr weh tue, mit einem Cut am Oberarm auf dem Barrenholm zu landen. Und Marcel Nguyen sagte zu seinen Handproblemen knapp: "Es wird schon funktionieren."

Eine Art Ausnahmezustand

Die deutschen Turner betreiben keinen Zweikampfsport, und trotzdem befindet sich die Riege des Bundestrainers Hirsch seit Wochen wegen ihrer Blessuren an Kapseln, Sehnen und Muskeln in einer Art Ausnahmezustand. Nach Möglichkeit wurde weiter an den Geräten geübt, und nun sind sie in Glasgow und üben in den Trainingshallen der Weltmeisterschaft, die am Freitag beginnt.

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Diese WM ist für viele von ihnen der entscheidende Ort für den letzten großen Plan der Karriere. Es geht um die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro im nächsten Jahr, und bei Abwägung aller Alternativen gab es keine andere Wahl, als es mit Schmerzen durchzuziehen. Glasgow in Schottland ist für die deutschen Turner ein Nadelöhr.

Die Worte der Turner, die also ständig die Zähne zusammenbeißen, mögen drastisch klingen, doch es haben sich tatsächlich viele Blessuren angehäuft, auch bedingt durch einen Trainingszeitdruck, der wiederum entstanden war durch lange Pausen nach schweren Verletzungen. Am Ende war es für Trainer, Physios und Sportler ein ständiges Abwägen. Wie früh kann Nguyen, der zweifache Olympia-Zweite von London, schon seine Boden-Übung ausprobieren, nachdem er wegen seines Kreuzbandrisses lange abgewartet hatte?

Auch musste er sich jeden Trainingseinsatz am Barren überlegen, damit er seine Dauerwunde in der Handfläche nicht wieder reizte - jene offenen Risse, die ihm seit Jahren zu schaffen machen. Der Barren ist im Grunde Nguyens bester Freund, doch zurzeit ist es eher ein Zweikampfgegner, auch weil sich Nguyen im Trainingslager noch eine Fingerverletzung hinzugezogen hatte.

Abwägen musste auch Reckspezialist Bretschneider, ob er seine Barrenübung doch noch verfeinert, oder ob er besser seinen Ringfinger schont. Die beiden sind nicht die Einzigen, die zwischen Erholung und Übung hin- und hergerissen waren - und Hirsch, der die Verantwortung fürs Ganze hat, musste abwägen, ob das alles überhaupt Sinn ergibt.

Doch die Alternative, jetzt langsamer zu machen und auf einen Nachrückerplatz für Rio zu setzen, wurde schnell verworfen. "Das will ich auf keinen Fall", sagt Nguyen. Denn damit würde eine weitere Kettenreaktion in Gang gesetzt, die in gewisser Weise auch schmerzt. Man müsste schon im Dezember das Training aufnehmen für den Testwettkampf, in dem sich im März jene Mannschaften messen, die in Glasgow nicht unter die besten Acht kommen. Weitere vier Nationen können sich im März qualifizieren, doch dann lohnt sich bis zu den Spielen keine Erholungsphase mehr, die Athleten wären wahrscheinlich erst recht geschlaucht. Und schließlich droht eine Maßnahme, vor der allen graut.

"Kienbaum statt Tannenbaum"

Im abgeschiedenen Sportzentrum Kienbaum, das irgendwo fern von Berlin im flachen brandenburgischen Hinterland liegt, würde bereits an Weihnachten trainiert, der Urlaub über die Feiertage entfiele. Turner fassen diese Situation unter dem Schlagwort "Kienbaum statt Tannenbaum" zusammen.

Damit es nicht so weit kommt, müssen die Athleten des Deutschen Turnerbundes in Glasgow früh in Topform sein. Sonst spitzen sich Weltmeisterschaften ja auch im Turnen erst mit den Finals zu, ein Jahr vor Olympia ist es umgekehrt. Außer den Topnationen wie Japan, China und Russland schielen alle auf die Olympia-Qualifikationstage zu Beginn. Für die deutschen Frauen ist es der Freitag, für die Männer der Sonntag: Kommen sie unter die besten acht Nationen der Qualifikation, dann sind sie in Rio mit je fünf Athleten dabei. Der Rest von Glasgow, zum Beispiel eine Medaille, ist nur Zugabe.

© SZ vom 22.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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