Turnen:Wie simuliert man einen Schwebebalken im Flur?

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Sarah Voss: Hohe Ambitionen für Olympia - nun gilt es, das Niveau zu konservieren (Foto: Tom Weller/dpa)
  • Turnerin Sarah Voss, die 2019 drei deutsche Meistertitel errang, und derzeit mit Elisabeth Seitz die aussichtsreichste deutsche Turnerin ist, braucht ihre Turngeräte, um das Niveau für Olympia zu halten.
  • Doch Turngeräte passen in keine Wohnung, deswegen hat Voss besondere Tricks, um das Körpergefühl nicht zu verlieren.
  • Mit Mentaltraining versetzt sie sich zurück in die Trainingshalle.

Von Volker Kreisl, München

Ein Holm. Wo kriegt man jetzt einen Barrenholm her? Er müsste quer in der Luft befestigt sein, auf Brusthöhe reicht schon, obwohl: Noch besser wäre auf Kopfhöhe. Andererseits, alles würde man nehmen, eine Eisenstange täte es auch, und gibt es die nicht auf manchen Spielplätzen? "Da würde ich sofort Übungen machen", sagt Sarah Voss, ein bisschen schwingen und stemmen nur, vielleicht ein paar Felgen, kleinere Sachen, die auch schon was bringen, aber: "Die Spielplätze sind ja auch zu."

Die Trainingsplätze, die Hallen, Stadien, Krafträume und Entmüdungsbecken auch. Für alle Athleten ist dies ein kritischer Zustand, aber es gibt doch auch Unterschiede. Viele Disziplinen erfordern vor allem Kraft oder Ausdauer, da lässt sich auch bei Ausgangsbeschränkung viel trainieren. Sarah Voss aber, die 2019 drei deutsche Meistertitel errang, die im Olympiateam steht und derzeit mit Elisabeth Seitz die aussichtsreichste deutsche Turnerin ist, die braucht, um das Niveau zu halten, ihre Turngeräte.

Turnen, das ist ein alt klingendes Wort, und es hatte ja auch im vorvergangenen Jahrhundert seinen Aufschwung, als Friedrich Ludwig Jahn die Geräte entwickelte, die viele nicht so Bewegungsbegabte noch lange nach der Schulzeit mit brennenden Muskeln und blauen Flecken in Verbindung bringen. Tatsächlich ist die Turn-Bewegung aber ungebrochen. Knapp fünf Millionen Menschen sind im zweitgrößten deutschen Sportverband, dem Turner-Bund aktiv, alle vier Jahre feiern sie zu Zehntausenden ihr Turnfest. Und alle, egal ob sie zu den Fitness-Freaks zählen oder zu den Leistungssportlern, müssen nun die Couch zur Seite schieben und im Wohnzimmer turnen, wo sie gewissermaßen wie beim Turnfest vereint sind, jedenfalls in Gedanken, wo alle ihren Körper fordern und Stress und Ängste abbauen, vom Altherren-Faustballer bis zur Medaillen-Gewinnerin.

Klar, Sarah Voss macht noch ein bisschen mehr. Sie hatte bis vor kurzem noch einen Alltag ähnlich dem von Profis, sie nahm Ende Januar in Milwaukee teil, beim American Cup der Turner, sie steht normalerweise fünf bis sechs Stunden täglich in der Halle. Und sie braucht die vier Geräte wie jede andere Turnerin und wie jeder andere Turner (der sogar sechs), weil Fitness und Gerätekunst immer auch gleichzeitig gedeihen müssen. Alle Kniebeugen mit oder ohne Hantel und die ganze geballte Sprungkraft helfen nichts, wenn das freie Rad auf dem Schwebebalken nicht in der vorgesehenen Flugbahn verläuft. Da geht es um Millimeter, für diese Abstimmung sind unzählige Übungen nötig.

Und deshalb steht bei Sarah Voss, 20, nun doch eine kleine Balkenanlage im Flur. Ein Übungsbalken aus Kunststoff nur, den man auf den Boden legen kann, um ein bisschen Balken zu spielen und Automatismen aufzufrischen. Auf dem also die Füße von Voss speichern können, wo sie landen müssen, wie sie den restlichen Körper stabil im Gleichgewicht stützen, kurz, auf dem Körper und Geist nicht vergessen, wie schmal zehn Zentimeter sind. "Es geht hauptsächlich um das richtige Gefühl", sagt sie.

Sie tut, was sie kann, um dranzubleiben. Sobald echtes Training wieder möglich ist, wollen die Turnerinnen schnell auch wieder auf höchstem Niveau üben, und deshalb konservieren sie ihr Gerätegefühl wie Tiefkühlkost, die man auch jederzeit schnell auftauen kann. Und Turnerinnen wie die junge Hoffnung Voss haben es immer besonders eilig.

Zeit aber ist eine problematische Größe. Als Jugendliche warten Turnerinnen darauf, endlich ausgewachsen und voll belastbar zu sein, und wenn es endlich so weit ist, knickt der Knöchel um oder es schmerzt rätselhafterweise die Schulter, wie beim Stuttgarter Großtalent Tabea Alt. Die Zeit wird schnell zum raren Gut, das hat Voss womöglich früher erkannt als viele andere. Sie ist zielstrebig, hat sich als Teenagerin für das Turnzentrum an der Deutschen Sporthochschule in Köln entschieden, und für zwei Lieblingsgeräte, mit denen sie manche Lücken füllen kann im deutschen Frauenturnen: den Schwebebalken und den Sprung. Und nun steht sie vor Olympia 2021, das zwar um ein Jahr verlegt wurde, doch 15 Monate sind gerade lange genug, um das große Aufbauprogramm von Sarah Voss zu vollenden. So richtig loslegen würde sie jetzt also, wenn die Zeit nicht gerade stillstünde.

Das könnte eine Topsportlerin so richtig fertigmachen, wenn sie plötzlich wegen Pandemie-Verbot nicht mehr in ihr angestammtes Gym gehen darf, sich nicht mehr auf den Boden legen, die Atmosphäre spüren, die Gedanken konzentrieren und dann loslegen kann.

Es sei denn, sie tut's einfach trotzdem.

Voss war ja neulich erst wieder dort. Sie hat die Atmosphäre Turnzentrum intensiv wahrgenommen - das Deckenlicht, die Luft, die Holme des Stufenbarrens. Dann sprang sie hinauf und hat ihre Übung mit den neuen Schwierigkeiten in Angriff genommen. Sie hat den Jäger- und den Hindorff-Salto gebückt statt gegrätscht gut bewältigt und zudem die neuen Verbindungen ordentlich präsentiert, aber dann unterlief ihr doch ein Fehler, und sie fiel runter, was in diesem Fall kein Problem war, denn Voss befindet sich ja nur in der Welt der Imagination, wenn sie ihr Mentaltraining macht.

"Man muss sich alles genauso vorstellen, wie es ist", sagt Voss. Schon länger wendet sie diese Technik an, die momentan Gold wert ist, vielleicht mehr, als ihre Einheiten im Wohnzimmer oder im Schlafzimmer, wo sie ein Thera-Band um die Hüfte spannt, um die Haltung für die Beschleunigung vor einer Boden-Akrobatik oder vor dem Abheben beim Sprung zu optimieren.

Nicht jeder junge Mensch, wohl auch nicht jeder aus ihrem Millionenverband, kann in dieser Coronapause nachvollziehen, was Voss umtreibt. Sie turnt nicht zur Ertüchtigung, sondern um Hochleistung zu bringen. Denn sie gehört zu den Sportlerinnen, die schon ganz früh exakte Vorstellungen von ihrer Zukunft entwickeln und diese Ziele mit großer Disziplin verfolgen, weshalb Voss zunächst eine kleine Krise überwinden musste, ehe sie in ihren Home-Gym-Trainingsplan einsteigen konnte, sie weiß noch: "Die Routine war weg, ich hab' mich verloren gefühlt."

Anhüpfer im Wald

Aber der Aufwand lohnt sich ja, unter anderem auch wegen der großartigen Flugerlebnisse, zum Beispiel beim Sprung, neben dem Schwebebalken ihr zweites Paradegerät. Voss hat sich früh darauf spezialisiert, weil sie die Problematik dieses Geräts anders als viele Turn-Kolleginnen besonders fasziniert: Der extrem dichte und kurze Ablauf, der von außen kaum nachvollziehbar ist, in dem sie trotzdem alle Drehungen und Überschläge selber beobachten und steuern kann, als befände sie sich im Mentaltraining.

Die Zeit dehnt sich also beim Sprung, genauso wie in diesen langen Quarantäne-Wochen, dabei allerdings ohne Genuss. Niemand weiß, wie gut die Sportler hinterher dastehen, wie schnell die Weltklasse-Athleten aus dem Wohnzimmer zurück in den Alltag finden, ehe der Wettlauf vor diesen Spielen in Tokio so richtig beginnt.

Aber Voss kommt schon auch an die Luft, selbst wenn keine Barrenholme zur Verfügung stehen. Sie joggt und übt auf einem der Waldwege in ihrer Nähe weitere Details wie den sogenannten Anhüpfer. Das ist der entscheidende Moment auch für den Sprung, der letzte mit Hüftspannung vollzogene Anlaufschritt, mit dem der Impuls für die Flugbahn gesetzt wird. Wenn der kleine Anhüpfer gelingt, dann kann fast nichts mehr schiefgehen.

Das wiederum gilt wohl auch für die ganz großen Pläne.

© SZ vom 04.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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