Turn-EM:Der Schwebebalken, mit dem alles begann

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Vertrauter Schwebebalken: Pauline Schäfer beim Gewinn der Bronzemedaille 2015 in Glasgow. (Foto: dpa)
  • In Glasgow ist Pauline Schäfer eine der Hauptdarstellerinnen. Die 21-Jährige kehrt an die Stelle zurück, an der ihr der Durchbruch gelang.
  • Mit ihrer mentalen Stärke ist sie Vorbild für die jüngeren Turnerinnen im deutschen Team.
  • Bei den European Championships erwartet sie eine besondere Atmosphäre.

Von Volker Kreisl, Glasgow

Jeder Balken ist anders. Je nach Fabrikat besteht jeder Schwebebalken aus unterschiedlich hartem Material. Bezogen ist er mit einem speziellen rutschfesten Vlies, weshalb er mal besseren, mal schlechteren Grip und schärfere oder rundere Kanten hat. Und wie gut der Fuß dann den Balken spürt, sagt Pauline Schäfer, das hänge auch vom Untergrund ab, auf dem das Gerät steht, vom Podiumsgestell, auf dem er manchmal mehr, manchmal weniger schwingt. Schäfer sagt: "Der Balken von Glasgow fühlt sich gut an."

Das Problem ist aber, dass nicht nur jeder Balken, sondern auch jeder Kopf anders ist, jedes Nervenkostüm und jedes Bein. Und manche Fußsohle kriegt auch auf einem ideal eingerichteten Schwebebalken keinen Halt, wie am Donnerstagabend, während der Europameisterschaft in Glasgow, bei Schäfers Mitturnerinnen.

So kam also dieses Ergebnis zustande, nach dem im Team des Deutschen Turnerbundes alle hin- und hergerissen waren. Sollten sie heulen? Oder durften sie sich doch freuen? Sie hatten erst Erfolge errungen, mit zwei Finaleinzügen von Sarah Voss am Sprung und Kim Bui am Stufenbarren, aber dann stürzten Voss und Leah Grießer regelrecht vom Balken ab. Jede verlor jeweils dreimal die Balance und sprang oder fiel herunter. Das Team verpasste das Finale am Samstag, was andererseits am Sonntag (17 Uhr/ZDF) schnell wieder abgehakt sein könnte. Da könnte nämlich Pauline Schäfer, die sich auf dem Balken von Glasgow ja wohlfühlt, Europameisterin werden. Den Weltmeister-Titel errang sie schon im vergangenen Oktober.

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Schäfer lässt still ihre Erfolge sprechen

Die 21-Jährige bleibt also in der Rolle der Hauptdarstellerin, die sie nach ihrem WM-Erfolg in Montreal automatisch eingenommen hatte, und die eigentlich gar nicht zu ihr passt. Schäfer ist eine zurückhaltende Sportlerin, die fortwährend an ihrer eigenen Form bastelt, abends auf einer Schule an ihrem Abitur arbeitet und ansonsten still ihre Erfolge sprechen lässt.

Im Grunde ist Schäfer die Begründerin einer neuen Balken-Zeit im deutschen Turnen. In einer Phase, als sich viele Talente im Verband auf Stufenbarren, Boden und Sprung verlegten, hatte Jugendturnerin Schäfer schon Spaß daran, auf einem zehn Zentimeter breiten Gerät Figuren auszuprobieren. Die Tipps der kanadischen Balken-Pädagogin Carol-Ann Orchard, die den anderen Deutschen manche Paranoia vor diesem angeblichen Zittergerät nahm, waren für Schäfer nur eine Ergänzung.

Vor knapp drei Jahren gelang ihr der Durchbruch, an exakt derselben Stelle wie beim zwiespältigen deutschen Balkenaufritt am Donnerstag: Glasgow, SSE-Arena, westliche Podiumsseite, links von der riesigen Monitorwand. Da stand schon bei der WM 2015 der Balken. Allein schon ins Finale gekommen zu sein, war ein Erfolg gewesen, und dann turnte Schäfer unbeeindruckt vom großen Moment eine vergleichsweise schlichte Übung sauber durch, gewann Bronze und stand auf einmal auf der großen Bühne ganz links bei der Medaillenzeremonie. Als Balkendritte.

Seitdem war deutlich, dass die deutsche Angst vor diesem Gerät auch eine Illusion war. Neben Schäfer dokumentierte dies auch Tabea Alt aus Ludwigsburg mit WM-Bronze in Montreal, ehe sie Schulterbeschwerden bekam, wegen denen sie seit Monaten schon ausfällt. Dass es nun in Glasgow zu einem Rückschlag fürs Team kam, muss diese Entwicklung nicht bremsen, denn es gibt ja klare Gründe dafür.

Voss, 18, und Grießer, 17, waren eben noch Ersatzturnerinnen, durch die Ausfälle von Alt, Elisabeth Seitz und Sophie Scheder standen sie nun recht plötzlich in der Verantwortung, die der gesamte DTB-Tross unterschätzt hatte. Europameisterschaften waren bisher vertraute Veranstaltungen, mit bekannten Gegnern und Gesichtern der Kollegen von Radio und Zeitung. Nun findet in Glasgow nicht bloß eine Turn-EM statt - sondern The European Championships mit fünf weiteren Sportarten, und auf einmal stellten drei Fernsehsender Interviewanfragen, dazu kamen Online-Berichte und schließlich eine beachtliche Kulisse schon im EM-Vorkampf, bei dem sonst nur eine Schulklasse, das Hallenpersonal und die Presse zuschaut. "Ich weiß wirklich nicht, woran es lag", sagte Voss nach dem Auftritt, aber Bundestrainerin Ulla Koch vermutete, die Erwartung eines Riesenpublikums habe sich vielleicht in den Köpfen festgesetzt: "Wir haben das wohl unterschätzt."

Und was könnten sie nun von der Weltmeisterin in ihrem Team lernen? Nachdem Voss theoretisch die Schwierigkeiten beherrscht, mit denen sie normalerweise in ein EM-Finale einzieht, dürfte sie mehr von mentalen Stärken Schäfers profitieren. Und weil Schäfer nicht viel über sich selbst redet, ist es vielleicht am besten, ihr einfach nur zuzuschauen.

Als sie am Donnerstag an der Reihe war, stand auch sie bereits unter gewaltigem Druck. Sportdirektor Wolfgang Willam hatte noch vor der Anreise von der Bedeutung der Bildschirm-Präsenz für die Turner gesprochen, und natürlich sollte neben Voss und Bui nun auch die Favoritin Pauline Schäfer am Wochenende in möglichst vielen Wohnzimmern turnen. Schäfer hat es von Kindheit an freilich drauf, in Extremfällen die Begehrlichkeiten von außen nicht an sich heranzulassen. "Ich kann ausschalten", sagt sie, "ich habe genug mit mir selber zu tun."

Ein Auftritt, wie es die Situation verlangte

Als sie dann auf dem Balken stand, war ihre Anspannung zunächst zu spüren, aber nachdem sie einmal rauf und runter geturnt und auch ihren selbst kreierten Schäfer-Salto mit halber Drehung gestanden hatte, war irgendwie klar, dass sie ins Finale rückt. Ein Wackler noch, eher ein kurzes Zucken, das war's. Ihr Vortrag war reduziert, wohldosiert, trocken, fast humorlos, wie es diese Situation verlangte.

Am Sonntag wird sie als Letzte im Finale antreten, dann wird ihre Übung mehr wert sein; durch weitere Verbindungen sollen noch vier Zehntelpunkte im Schwierigkeitswert dazukommen. Schäfer wird das ganze Wochenende über an ihrem Lieblingsgerät üben, sich ansonsten am oftmals verspannten Rücken behandeln lassen und vielleicht noch einmal im Aufzug in den 16. Stock des Hotels fahren, auf das verregnete Glasgow hinunterschauen und daran denken, dass sie am Sonntagabend an den Ort des Anfangs zurückkehrt. An dieselbe Stelle, denselben Schwebebalken, mit sogar demselben Fabrikat.

© SZ vom 04.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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