TSV 1860 München:Mit langem Anlauf

Lesezeit: 3 min

Kurz vor Schluss erzielt Levent Aycicek das erlösende 1:0 für die Löwen gegen Dynamo Dresden. Interimstrainer Daniel Bierofka spricht von einem "überlebenswichtigen Sieg".

Von Christopher Gerards

Daniel Bierofka hatte in der 68. Minute die Wahl. Klar war, dass er jetzt den Außenangreifer Daylon Claasen einwechseln würde, der sich am Spielfeldrand die Trainingskleidung auszog. Aber wen er auswechseln würde? Der 1860-Trainer Bierofka hätte es sich leicht machen können, er hätte auf den Populisten in sich hören können, und der hätte ihm wahrscheinlich zugerufen: Nicht den Kapitän! Nicht Stefan Aigner! Aber Bierofka wusste ein bisschen besser Bescheid als der Populist in sich, er wusste zum Beispiel, dass der rechte Außenangreifer Aigner eine Weile verletzt war und so ganz fit noch nicht ist; und er wusste auch, dass er den anderen Außenangreifer schon noch ganz gut brauchen konnte. Bierofka entschied: Claasen würde für Aigner, den einen Außenangreifer, kommen. Und das hieß auch: Levent Aycicek, der andere Außenangreifer, durfte weiterspielen.

Wie dieses Zweitligaspiel zwischen 1860 München und Dynamo Dresden ausgegangen wäre, wenn Aycicek statt Aigner gegangen wäre? Man weiß es nicht. Was man weiß ist: Bierofka hat Aycicek nicht ausgewechselt. Und Aycicek hat 21 Minuten später das 1:0-Siegtor geschossen.

"Überlebenswichtig" sei dieser Sieg gewesen, hat Bierofka hinterher gesagt, seine Mannschaft kommt jetzt auf 15 Punkte nach 15 Spieltagen. Bierofka hat dann noch ergänzt, dass es keinen "Biero-Effekt" gebe, den Sieg hätten sich "die Jungs" erarbeitet. Andererseits hatte Bierofka in seinem zweiten Spiel als Cheftrainer in dieser Saison mindestens ein glückliches Händchen bewiesen, wie das in der Fachsprache heißt. Er hatte Aycicek nicht in der 63. Minuten gegen Sascha Mölders getauscht, er hatte ihn auch nicht in der 68. Minute für Daylon Claasen ausgewechselt und auch nicht in der 80. Minute für Karim Matmour. Aycicek durfte 90 Minuten spielen und in der vorletzten durfte er halt noch ein Tor machen. Wobei: Wenn man ehrlich ist, war Bierofkas Händchen nicht wirklich glücklich, sondern einfach nur souverän. Bierofka konnte eigentlich gar nicht anders als Aycicek durchspielen zu lassen, er hatte sich ja erst 63, dann 68 und dann 80 Minuten um noch mehr Einsatzzeit beworben.

Ein seltsames Spiel ist das gewesen am Samstagnachmittag. Das lag zum einen daran, dass von den 43 400 Zuschauern enorm viele aus Dresden kamen. Zum anderen lag es daran, dass das Spiel sich schlecht entscheiden konnte. Lange schien es fest entschlossen, 0:0 auszugehen. Danach war das Spiel noch fester entschlossen, 1:0 für Dynamo auszugehen, jedenfalls schickte es andauernd Dresdner Angreifer vors Münchner Tor. Aber weil keiner dieser Angreifer den starken Torwart Stefan Ortega überwand, überlegte das Spiel es sich nochmal anders. Es schickte Aycicek nach vorne. Der hatte schon zuvor fast immer die Füße im Spiel, wenn 1860 mal vors Tor kam (auch wenn das eher selten geschah). Er hatte schon in der 2. Minute einen Freistoß knapp übers Tor gesetzt, später flankte er einen Freistoß Richtung Winkel. Und dann, in der 89. Minute, spielte er mehrere Gegenspieler aus, er schoss aus 17, 18 Metern. Und weil Dresdens Torwart Marvin Schwäbe den Ball zwar berührte, aber nicht abwehrte, rannte Aycicek jubelnd los, fast über den ganzen Platz Richtung Nordtribüne.

Aycicek, 22, hat einen langen Anlauf genommen. Das war am Samstag so, aber das gilt auch für seine bisherige Karriere. In Bremen war er einst als diensthabender Hoffnungsträger angetreten, er trug die Nummer 10, so wie das vorher Johan Micoud und Diego getan hatten. Aber dann bereicherte er vor allem die Bremer Reserve. In der vergangenen Winterpause lieh 1860 ihn aus. Aycicek spielte mal von Anfang an und mal nicht, er war einer dieser Spieler, die zwar wunderbar mit dem Ball umgehen können, aber die nicht ganz so wunderbar robust spielen und noch etwas weniger wunderbar konstant.

Zumindest war das bislang so. Aber wie es aussieht, hat Aycicek sich inzwischen zu einer relativ sicheren Anlage entwickelt. Er hat in den vergangenen sechs Spielen vier Tore gesammelt und zwei Vorlagen, und gern hätte man ihn zu seiner Leistung gefragt: Warum klappt es auf ein Mal so gut? Welche Rolle spielt der neue Trainer Bierofka? Solche Sachen. Ging aber nicht, weil 1860 weiterhin die Presse boykottiert und kein Spieler in der Mixed Zone erschien.

Zu den Pointen in Ayciceks Karriere gehört, dass ihn der inzwischen entlassene Sportchef Oliver Kreuzer aus Bremen holte. Es war derselbe Kreuzer, der Ayciceks Leihe im Sommer um ein Jahr verlängerte. Verhandelt hatte Kreuzer im Winter mit Bremens Manager Thomas Eichin. Der wiederum ist nun bei 1860 tätig, inzwischen nicht mehr als Geschäftsführer, sondern zum Sportdirektor degradiert, und steht auch schon wieder vor dem Abschied. Eichins Auftritt am Samstag war interessant: Das Spiel verfolgte er - wie schon in Braunschweig und anders als in den Wochen zuvor - nicht aus dem Innenraum des Stadions. Dort gratulierte der Mannschaft der mit zwei Löwen-Schals ausgestattete neue Geschäftsführer Anthony Power. Aber das ist eine andere Geschichte.

© SZ vom 05.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: