TSV 1860 München:Ritt in den Sonnenuntergang

Lesezeit: 3 min

Fast vergessene Freude: Die 1860-Profis Daniel Adlung (links) und Stefan Mugosa bejubeln den ersten Pflichtspiel-Sieg seit Anfang August. (Foto: Imago/MIS)

Nach dem Pokalsieg gegen Mainz erwartet der Fußball-Zweitligist die Schlüsselpartie gegen Duisburg. Cheftrainer Benno Möhlmann kehrt zurück - genau wie die Frage: Was bleibt von diesem irren Spiel?

Von Philipp Schneider

Natürlich hat Benno Möhlmann in seiner eigentümlichen Karriere schon fast alles erlebt, was der Fußball im Repertoire bereithält für einen ehemaligen Profi und gegenwärtigen Fußballlehrer wie ihn. Frühe Rückstände. Späte Ausgleichstreffer. Umstrittene Platzverweise, schöne Fußballerfrisuren und Mannschaften, die in Unterzahl verlieren. Auch weiß Möhlmann, dass im Pokalwettbewerb ab und an überraschende Spielverläufe noch überraschendere Ergebnisse bewirken. Und doch dürfte selbst der 61-Jährige diese wundersame Partie am Dienstagabend in Mainz in Erinnerung behalten: das 2:1 (0:1) des TSV 1860 München gegen den Bundesligisten, dieses 1083. Profispiel, an dem Möhlmann in seinem Leben beteiligt war. Weil er ja die Aufstellung vorgegeben hatte, obwohl er das Spiel anschließend nicht an der Seitenlinie erlebte, sondern vom Krankenbett, aus dem er nach überstandener Gallen-Operation erst Mittwochnachmittag entlassen wurde. Und mit Freude wird Möhlmann sicher registriert haben, dass sein Stellvertreter, der Torwarttrainer Kurt Kowarz, alles richtig entschied, was Möhlmann selbst nicht anordnen konnte. Ausnahmslos. So empfand es zumindest Kowarz, der am Tag nach dem Spiel sagte: "Gestern haben wir mit allen Entscheidungen von der Linie richtig gelegen." Irre Geschichte.

"Wir haben nicht Halligalli gespielt, sondern sind kompakt geblieben", sagt Kapitän Schindler

Seit zwölf Spielen ist Sechzig nun gegen Zweitligakonkurrenten ohne Sieg und steht auf Platz 17 in der Liga. Aber nach zwei Siegen gegen die Bundesligisten Hoffenheim und Mainz spielt der Klub bald ein Achtelfinale im DFB-Pokal. "Was lernen wir aus der Geschichte?", fragte also im Fernsehen der Moderator Mehmet Scholl: "Sie spielen in der falschen Liga!" So irre ist die Geschichte dann doch nicht. Allein: Was lernen wir denn wirklich aus der Geschichte?

Gewiss, "unser Spielbeginn war nicht so gut", klagte Kapitän Christopher Schindler später mit einigem Recht. Das "frühe Gegentor" (Eigentor von Schindler, 6. Minute ) habe "sofort alles über den Haufen geworfen". Zunächst lief also alles wie in der Liga. Neu war diesmal, dass Sechzig in der zweiten Halbzeit (nachdem Mainz nach einer eher strittigen roten Karte für Pierre Bengtsson ab der 44. Minute zu zehnt auskommen musste) drei Chancen herausspielte, von denen Rubin Okotie (70.) und Stefan Mugosa (77.) zwei nutzen konnten. "Was gut war: Wir haben nicht Halligalli gespielt, sondern sind kompakt geblieben", analysierte Schindler. Doch die Löwen profitierten vor allem davon, dass auch Mainz nach der frühen Führung kein Halligalli zeigte und den Ball mit der Lethargie einer Mannschaft kreisen ließ, die sich eines Sieges zu sicher wähnte.

1860 dagegen konnte mit der Leichtigkeit eines Gesetzlosen in den Sonnenuntergang reiten, den die Gesellschaft längst aufgegeben hat; es spielte wie ein Team, von dem niemand den Sieg erwartet. Er habe keinerlei Druck verspürt, gab der Mittelfeldmann Milos Degenek zu: "Bei einem Pokalspiel geht es für den Verein ums Geld. Und für uns Spieler um Spaß." Dieser Spaß wird spätestens am Sonntag um 13.30 Uhr vorbei sein. Dann empfängt Sechzig im Ligabetrieb den Tabellenletzten MSV Duisburg: Zum vorgezogenen Endspiel am 13. Spieltag, so raunen es manche Beobachter an der Grünwalder Straße.

Dass nicht nur die Mannschaft im Pokal ganz unbeschwert agieren konnte, sondern auch das Trainerteam von allen Vorgaben der eigenen Vernunft befreit war, bewies die Aufstellung. Doch das Rätsel, weswegen Möhlmann und Kowarz die Startelf gleich auf fünf Positionen änderten, wurde auch am nächsten Tag nicht gelüftet. Wollten sie Schlüsselspieler wie Wittek und Okotie schonen für das Spiel gegen Duisburg? Oder hatten sie nach dem 0:1 in Fürth vorübergehend genug von Witteks und Okoties Fußballkünsten?

"Innerhalb des Teams ist der Konkurrenzkampf sicher gewachsen, weil sich die Jungs so gut präsentiert haben", sagte Kowarz. Mit den neuen Jungs meinte er abgesehen vom unerhört erfolgreichen Pokal-Torwart Stefan Ortega ("Er hat einen Ergebnislauf") Richard Neudecker, der als Linksverteidiger Wittek verdrängte und zu seinem Profidebüt kam. Er meinte Mugosa, der den Vorzug vor Okotie erhielt, Krisztian Simon, der anstelle von Marius Wolf spielte - und Daylon Claasen, der auf der Position von Korbinian Vollmann wirbelte und das Spiel über die Flügel trieb. Der Südafrikaner, der in den vergangenen vier Partien entweder gar nicht oder maximal 13 Minuten wirken durfte, war im Spiel gegen Mainz die prägende Figur. Doch mit Lob hielt sich Kowarz zurück. Als die Rede auf Claasen kam, sagte er: "Es gibt Trainings-Weltmeister und Weltmeister auf dem Platz. Im Training spielt er oft gut nach vorne, im Spiel dann nach hinten. Gestern hat er nach vorne gespielt, so wie es Benno fordert." Wie es Benno fordert, habe vor allem der 18-jährige Neudecker gespielt. "Er ist defensiv im Eins-gegen-eins gut, und er kann auch nach der Balleroberung was mit dem Ball anfangen", lobte Kowarz: "Er hat Benno sofort gefallen!"

Ab diesem Donnerstag kann Möhlmann wieder selber erzählen, was ihm gefällt und was nicht. Am Nachmittag wird er das Training leiten und sich möglicherweise Milos Degeneks philosophischem Ausblick auf die wegweisende Partie gegen Duisburg anschließen. Degenek sagte: "Im Leben muss man nur sterben und nackt geboren werden. Im Fußball müssen wir gewinnen und drei Punkte holen."

© SZ vom 29.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: