An dem Tag, an dem die neue Bestmarke entstand, glaubten viele Beobachter, dass sie ohnehin nur von kurzer Dauer sei. Der 5. Juli 1975 war es, eine Zeit, in der die Tour noch das Phänomen der Halbetappen kannte: am Vormittag ein kurzer Abschnitt, am Nachmittag noch ein Zeitfahren, und der Gewinner dieser "Etappe 9b" war mal wieder der Belgier Eddy Merckx, der ewig gefräßige Dominator jener Zeit. Es war sein 34. Tagessieg bei der Tour und als Grundstein für seinen neuerlichen, dann sechsten Rundfahrt-Triumph gedacht. Doch stattdessen erwies sich die Tour 1975 als Wendepunkt: Bernard Thevenet gewann das Klassement, und Merckx weder bei den verbleibenden Etappen 1975 noch bei seiner Rückkehr 1977 einen Tagesabschnitt. Aber die 34, die stand fortan als magische, schier unbezwingbare Marke.
Doch nun könnte sie bald fallen. Am Dienstagabend hat Mark Cavendish, 36, in Valence auch den dritten Massensprint dieser Tour gewonnen, erneut imponierend lanciert von seiner Deceuninck-Mannschaft. 33 Mal triumphierte der Brite nun schon bei Tour-Etappen, und weil die 2021er-Auflage durchaus sprinterfreundlich konzipiert und mancher Sprint-Konkurrent wie der Australier Caleb Ewan schon ausgeschieden ist, bieten sich Cavendish noch vier gute Gelegenheiten für einen weiteren Triumph: gleich an diesem Donnerstag in Nimes, tags darauf in Carcassonne - und gegen Ende der Rundfahrt noch in Libourne und in Paris.
Zu seinen Fabelzeiten galt er "Manxman" - als Großkotz von der Isle of Man
Der Brite tut in diesen Tagen so, als sei ihm das ziemlich egal - und Merckx übrigens auch. "Das kostet mich keinen Schlaf. Rekorde sind da, um gebrochen zu werden", sagte der 76-Jährige zuletzt belgischen Medien, und fuhr mit einer Anspielung auf seine weiteren Rekorde zugleich in bester Kannibalen-Manier fort: "Mark Cavendish wird nie fünfmal die Tour de France gewinnen. Und er wird auch nie 96 Tage in Gelb fahren. Und was ist wohl das Wichtigste?"
Dabei hätte bis vor Kurzem wohl niemand mehr damit gerechnet, dass es Cavendish am Ende seiner bemerkenswerten Karriere schaffen würde, Merckx' Etappen-Marke einmal einzuholen. Seit 2008 gehörte der Brite zu den dominierenden Sprintern des Pelotons. Nahezu jedes Jahr gewann er seine Etappen bei der Tour oder anderen großen Rundfahrten und einmal auch das Grüne Trikot des besten Sprinters (2011). Als Manxman galt er damals in seinen Fabelzeiten, als arroganter Großkotz von der Isle of Man. So manches Fehlverhalten und manche deftige Aussage sind aus jener Zeit überliefert. Einen ersten Karriere-Hänger überstand er, und spätestens als 2016 der Zähler für Tour-Etappensiege bei 30 stand, galt er als der Mann, der Merckx überbieten könnte.
Doch dann folgten ziemlich schwere Jahre. Im Frühjahr 2017 erkrankte Cavendish an Pfeifferschem Drüsenfieber. Später stellten die Ärzte bei dem Mann, der noch in seiner Biographie ("Boy Racer", 2010) nachdrücklich erklärte, er brauche niemals einen Psychiater, eine Depression fest. Auch der Wechsel seines Arbeitgebers brachte nichts. Der Mann mit den fast 160 Karrieresiegen gewann zwei Jahre lang, 2019 und 2020, kein einziges Rennen. Alles deutete auf ein Karriereende hin, bis sich nochmal ein Kontakt mit Deceuninck-Chef Patrick Lefevere ergab.
Als er nun gegen das Zeitlimit kämpfte, zogen ihn drei Gefährten den Berg hinauf
Der kannte Cavendish noch aus vergangenen gemeinsamen Erfolgszeiten und nahm ihn noch einmal unter Vertrag. Es wirkte wie ein Gnadendienst, ein Kontrakt für eine Saison, ein Salär im Mindestlohnbereich für Radprofis von etwas mehr als 40 000 Euro - doch es war der Beginn einer außergewöhnlichen Geschichte. Im Frühjahr zeigte Cavendish (nur 1,75 Meter groß und damit für einen Sprinter recht klein), dass er immer noch dieses Kraftpaket von früher sein kann. Als sich der Deceuninck-Vorzeigesprinter Sam Bennett kurz vor der Tour verletzt abmeldete, rückte Cavendish nach. Der erste Massensprint der Tour geriet zum unkalkulierbaren Sturz-Chaos, aber beim zweiten in Fougères war der Brite vorne und schluchzte danach so ausführlich, als sei er inzwischen Romantiker statt Rowdy. In Châteauroux und nun in Valence war er wieder unschlagbar. "Er ist einfach der Top-Sprinter unserer Generation", sagt der Deutsche André Greipel, der sich viele Jahre mit Cavendish um den Sieg duellierte, aber mit seinen 38 Jahren inzwischen nicht mehr mithalten kann: Platz sieben in Valence war sein bisher bestes Resultat.
Selbst in seinen Rüpeljahren hatte es Cavendish ausgezeichnet, dass er ziemlich ausschweifend seine Mannschaftskollegen für ihre Arbeit lobte - und das hat sich nun noch verstärkt. "Mein Team ist perfekt, meine Sprintvorbereitung ist perfekt", sagte er: "Ich habe jetzt keine Ausreden mehr, wenn ich nicht gewinne." Am Ruhetag am Montag saß er bei der Pressekonferenz seines Team am Rand eines Deceuninck-Fahrertrios und klopfte seinem Anfahrer Kasper Asgreen in der Mitte ausgiebig auf die Schultern, "dieser wundervolle Junge".
Bei all dem Lob dachte Cavendish wohl auch an einen wichtigen Moment dieser Tour, der gar nicht in einem Massensprint stattfand. Am Sonntag in Tignes war das, am Ende einer schnell gefahrenen Schlechtwetter-Etappe, die selbst langgediente Profis als schrecklichsten Tag ihrer Karriere beschrieben. Da kam er mit großem Rückstand an den letzten Berg und musste ums Zeitlimit kämpfen. Doch drei Teamkollegen spannten sich vor ihn und zogen ihn hinauf, und geradeso klappte es. 92 Sekunden länger, und der Kampf um das zweite Grüne Trikot seiner Karriere und Merckx' Marke wäre vorüber gewesen.