Tennis:Triumph der Bohnenstange

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Jamie Murray hat sich mit seiner Rolle neben Super-Bruder Andy und Super-Mama Judy arrangiert. In dieser Woche steigt der 29-Jährige zum weltbesten Doppelspieler auf.

Von Gerald Kleffmann, München

Jamie Murray war im März 2003 die Nummer 1266 in der Weltrangliste der Doppelspieler. In 13 Jahren hatte er 63 Partner, mit denen er als Duo die Tennisplätze betrat. Allein in der Saison 2012 assistierten ihm zwölf Profis. Damals kursierten Gerüchte, er wolle seine Karriere beenden. Nicht mal ins Finale bei einem Turnier der drittklassigen Future-Kategorie hatte er es in jenem Jahr geschafft.

Jamie Murray, 29, war in all diesen Jahren am bekanntesten dafür, der Bruder von Andy Murray zu sein. Nun hat er etwas geschafft, das seinen eigenen Wert hat.

Zu Beginn der Woche ist Murray an den Strand von Miami gefahren, hat "#1" in den Sand geschrieben und sich in einen Stuhl gesetzt. Der beste Doppelspieler der Welt, der er ab Montag laut Rangliste sein wird, trug ein T-Shirt mit der Aufschrift "Cassius Clay". Wie sein Bruder hat er ein Faible fürs Boxen. Der erste Brite, der je auf Rang eins im Tennis emporstieg, im Einzel wie im Doppel, sah zufrieden aus.

Ja, er fühle sich "herrlich", teilte er später mit, doch es dauerte bei seinen ersten Einordnungen nicht lange, da schwenkte er selbst zu Andy über, dessen Karriere er "wunderbar" finde. Sein Bruder sei es gewesen, der ihn dazu inspiriert habe, "ans Maximum zu gehen" in seinem Beruf. Als die beiden Jungen waren, haben sie sich oft gestritten. Einmal kloppten sie sich derart, dass Andy einen krummen Fingernagel davontrug, der heute noch sichtbar ist. Aber Jamie kennt seinen Platz in der Familienhierarchie. Sinnbildlich für die Schattenrolle, die er hinter seinem erfolgreicheren, 15 Monate jüngeren Bruder einnimmt, sind einige seiner Leistungen, die irgendwie stets verschwommen blieben.

Erfolgreiches Bruderdoppel: Jamie (links) und Andy Murray spielen regelmäßig im Davis Cup zusammen - 2015 gewannen sie ihn sogar. (Foto: Getty Images)

Jamie gewann noch vor Andy in Wimbledon einen Titel. Aber eben im Mixed, 2007 mit der Serbin Jelena Jankovic. Jamie ist nun die Nummer eins der Welt, was Andy nie schaffte. Aber eben im Doppel. Und Jamie erklomm den Doppel-Thron, ohne selbst zu gewinnen. Er profitierte in diesem Moment, ganz profan, von der Niederlage eines anderen. Deshalb gibt es außer diesem Foto vom Strand in Miami auch keine andere Jubelpose als Nummer eins.

Beim Turnier in Florida verlor Jamie mit seinem aktuellen Partner Bruno Soares aus Brasilien gleich zum Auftakt. Weil auch der bisherige Weltbeste im Doppel, der Brasilianer Marcelo Melo, eine Pleite kassierte und Halbfinalpunkte aus dem Vorjahr einbüßte, rückte Murray auf. Zeitgleich, auch dies erzählt einiges über Jamies Schicksal, flog Andy im Einzel gegen den Bulgaren Grigor Dimitrow aus dem Wettbewerb. Überdies gab Andys charismatische Trainerin Amélie Mauresmo ein bemerkenswert kritisches Interview zu all den Doping-, Wettbetrugs- und Gleichberechtigungsthemen, die das Welttennis gerade in Atem halten. Schon war Jamies Leistung nur eine globale Randnotiz - die britischen Medien natürlich ausgenommen.

Die lieben die Murrays, die wohl außergewöhnlichste Familie im Tennissport; von Serena und Venus Williams abgesehen, den zwei Schwestern mit der ihrerseits speziellen Vita und dem zugegebenermaßen kauzigeren Clan auf der Tribüne.

Die Murrays darf man sich als Tennisfamilie in Reinform vorstellen, die privat schon einiges durchgemacht hat. 1996 überlebten die Söhne einen Amoklauf in der Schule ihrer schottischen Heimatgemeinde Dunblane, weil sie sich verschanzten. 16 Kinder und eine Lehrerin wurden ermordet. Das Trauma schweißte die Brüder zusammen, und als sie im vergangenen November gemeinsam den ersten Davis-Cup-Titel für Großbritannien seit 79 Jahren holten, schloss sich ein drehbuchreifer Kreis. Vater William spielt zwar keine tragende Rolle, er trennte sich vor 18 Jahren von der Gattin. Dafür ist Mutter Judy seit jeher omnipräsent und einflussreich. Die 56-Jährige war selbst kurz Profi, ist eine seit Jahrzehnten respektierte Trainern, die einst die Karrieren ihrer Söhne auf den Weg brachte, und bis vor Kurzem das britische Fed-Cup-Team verantwortete. Ihr Rückzug war ein kleines Ereignis auf der Insel, ihre Taten haben auch Gewicht. Und sei es nur, dass sie wie 2015 ein Foto von Fußballtrainer José Mourinho und Andy Murray twittert und dazu schreibt: "The Special One with my Special One" - da fragt sofort die Presse: Wer ist Judys Liebling? Andy? Und was ist mit Jamie, dem armen Bruder? Der antwortete auf seine Weise und schrieb frotzelnd ins Netz: "Danke, Mum!"

Jamie hat sich mit seiner Position neben Super-Bruder und Super-Mum gut arrangiert. Und seinen Weg gefunden, nachdem absehbar war, dass er, mit 13 zweitbester Junior der Welt, nicht mit dem Bruder mitziehen konnte. Auf Rang 834 der Weltrangliste schaffte es der Linkshänder nur, ihm fehlte die Zähigkeit, mit der Andy agiert. Bohnenstange, diesen Namen verpasste ihm der frühere Profi und ständige Spitznamengeber Brad Gilbert. Mit 1,91 Metern bei 82 Kilo wirkt Jamie fürwahr schlaksig. Fürs Doppel indes ist seine Reichweite ideal, Ballgefühl und Gespür für den überraschenden Schlag zeichnen ihn aus. Der entscheidende Schub gelang ihm aber erst, als er sich 2013 mit dem Australier John Peers zusammentat. Sechs Titel errangen die beiden, sie erreichten die Finals von Wimbledon und den US Open. Ein erneuter Partnerwechsel führte Murray dann ganz nach oben. Mit dem Brasilianer Soares gewann er im Januar bei den Australian Open den ersten Grand-Slam-Pokal im Doppel. Als Andy als Zuschauer das Stadion in Melbourne betrat, um den Bruder beim um die Mitternachtsstunde angesetzten Finale anzufeuern, lauteten die Schlagzeilen: Andys später Besuch bei Jamies Sieg! Jede Leistung steht zuerst in Relation zu Andy.

An diesem Montag wird es aber erstmals anders sein. Dann ist Jamie die #1 bei den Murrays aus Dunblane.

© SZ vom 31.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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