Tennis:Rollentausch

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Sechster Titel 2016: Andy Murray gewann auch in Schanghai. (Foto: Lintao Zhang/Getty)

Zu Beginn des Jahres noch fast undenkbar, jetzt gar ein realistisches Szenario: Andy Murray kann bald Novak Djokovic an der Spitze der Weltrangliste ablösen.

Von Gerald Kleffmann, Schanghai/München

Mitte November könnte Andy Murray, der viele besondere Momente in seiner Tenniskarriere erlebt hat, wieder etwas Außergewöhnliches erfahren. Er könnte, wenn am 13. November das ATP-Tour-Finale der besten acht Profis beginnt, als Erster der Weltrangliste in London starten. Drei Grand-Slam-Titel hat der Schotte gewonnen, zwei olympische Goldmedaillen, mit Großbritannien triumphierte er im vergangenen Jahr im Davis Cup. Murray, der zu den großen Vier zählt, wurde oft nachgesagt, im Vergleich zu Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic der Wankelmütige zu sein. Am Sonntag siegte Murray beim Turnier der Masters-Serie in Schanghai, im Finale bezwang er den Spanier Roberto Bautista Agut 7:6 (1), 6:1. Es war seine zehnte Finalteilnahme 2016. Er hat in der Woche zuvor in Peking die China Open für sich entschieden. Rechnerisch kann Murray nun Mitte November die Nummer eins werden und Djokovic nach dessen famoser zweijähriger Erfolgsstrecke ablösen.

Das wäre kein Ausdruck von Wankelmütigkeit. Das wäre ein Ausdruck von Stärke.

Gerade im Gegenschnitt zu Djokovic in Schanghai wurden die Nuancen deutlich, die die beiden zurzeit unterscheiden. Sie liegen vor allem im mentalen Bereich, im Kopf. Djokovic hatte sich schon beim mühsamen Dreisatzsieg gegen den Deutschen Mischa Zverev im Viertelfinale verwundbar gezeigt. Bei seiner 4:6, 4:6-Halbfinalniederlage gegen Bautista Agut, Nummer 15 der Welt, zerriss er sich vor Wut das Hemd, haderte mit dem Schiedsrichter. Einmal versuchte er den Schläger zu zertrümmern, selbst das will ihm gerade nicht sofort gelingen. Er brauchte einige Versuche, ehe der Rahmen zerbrochen war. Murray ist nach wie vor kein Buddha auf dem Platz, er motzt vor sich hin, das pflegt er nach wie vor. Bei einem Seitenwechsel beschwerte er sich über ein weinendes Baby. Aber Murray ist jetzt sofort wieder bei sich. Er lamentiert nicht mehr weiter. Er weiß, dass er sich seit Monaten auf sein Können verlassen kann. Er ist fit. Er strahlt, wie Djokovic in der ersten Jahreshälfte, eine Aura der Unbesiegbarkeit aus. Djokovic selbst sagte in Schanghai nach seinem Aus, er habe sich "mental nicht großartig" auf dem Platz gefühlt. Er kündigte auch an, bis zum Hallenturnier in Paris-Bercy Ende Oktober kein Turnier zu spielen. Er werde den zweiten Geburtstag seines Sohnes feiern. "Darauf freue ich mich", überhaupt: "Ich werde viel außerhalb des Platzes tun." Während Murray seit Längerem schon aufgeräumt klingt, ist Djokovic bekanntlich dabei, einiges zu sortieren, sportlich, auch im privaten Bereich.

Murrays Vorteil: Die Kollegen in den Top Ten schwächeln gerade

So erklärbar ist, warum Murray - auch als aktuell noch Weltranglisten-Zweiter - gerade der beste Tennisspieler ist, so sehr ist erklärbar, warum es die anderen nicht sind. Die Spitze schwächelt unübersehbar. Während Murray nicht so viel in seinem Spiel und an seiner Arbeit verändert hat (der zurückgeholte Ivan Lendl war als Trainer in Asien nicht dabei), fallen die Kollegen in den Top Ten mit Problemen und Schwächen auf. Bezeichnend: Bei Murrays Titelgewinnen in Peking und Schanghai traf er nicht einmal auf einen Profi, der zu den besten Zehn zählt. Gegen Djokovic spielte er zum vorerst letzten Mal beim Finale in Rom, das er gewann. Nadal hat Mühe, den über Jahre geschundenen Körper wettkampftauglich zu machen. Der verletzte Federer spielt erst 2017 wieder. Stan Wawrinkas Schwankungen sind bekannt. Tomas Berdych entging knapp einer Blinddarm-Operation. Kei Nishikori und Dominic Thiem sind ebenfalls gesundheitlich angeschlagen. Milos Raonic ist außer Form. Djokovic? Er spürt auch "die vielen Matches in den vergangenen 15, 20 Monaten", wie er zugab. Selbst ein Athlet wie er muss körperlich an Grenzen stoßen.

Was nach Djokovics erstem Sieg bei den French Open im Juni undenkbar erschien, ist somit nun möglich: Murray würde die Nummer eins werden, wenn er in Wien und Paris gewinnt und Djokovic in Frankreich nicht ins Finale kommt. Noch vor Monaten hatte Murray dem englischen Sender Sky Sports gesagt: "Klar möchte ich die Eins werden, aber dieses Jahr wird extrem schwer." Der 29-Jährige hat seinen Beitrag geleistet, damit das Undenkbare doch klappen könnte.

© SZ vom 17.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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