Tennis:Einsteinsche Atomspaltung

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Laura Siegemund analysiert und zerlegt ihr Spiel wie kaum eine andere: Der Lohn ihrer Variabilität ist der erstmalige Gewinn ihres heimischen Turniers in Stuttgart.

Von Gerald Kleffmann, Stuttgart

Als Laura Siegemund vor dem Turnierstart an einem Geschicklichkeitswettbewerb im Parkhaus teilnahm, hatte sie eine ausgeklügelte Methode. Als sie fragte: "Kann ich Stoff geben?", war klar: Sie wird Stoff geben. Die Aufgabe lautete: So schnell es geht einzuparken. Mit einem 450-PS-Geschoss. Tracy Austin, 54, einst ein Tennis-Wunderkind, fuhr schüchtern wie ein Reh. 2:53 Minuten benötigte die Amerikanerin. Siegemund? Wählte als Einzige die Rambo-Methode: Voll rein in die Lücke, Zeitstrafe fürs Umsensen der Hütchen in Kauf nehmen - stopp! Ihre 1:46 Minuten wurden nicht unterboten. Sieg!

So ähnlich hat sie sechs Tage später das wichtigste deutsche Turnier im Frauentennis gewonnen; am Sonntag besiegte sie in einem packenden Duell die Französin Kristina Mladenovic 6:1, 2:6, 7:6 (5). Das Erstaunliche wieder: So zünftig, ja manchmal brachial ihr Stil auch auf dem Ascheplatz aussah - sie hat einen glasklaren Plan hinter allem. Sie nimmt Fehler in Kauf, selbst die Anarchie in ihren Spielzügen ist gewollt. Sie will die Nervensäge sein. Keine hat ihre Gegnerinnen in Stuttgart mehr genervt als die 29-Jährige aus Metzingen, die in Stuttgart-Heslach lebt.

Ihre Bachelor-Arbeit in Psychologie schrieb sie zum Thema "Versagen unter Druck"

Die Erfolgsgeschichte der Laura Siegemund, die von Rang 49 auf 30 in der Weltrangliste klettert und damit die zweitbeste Deutsche nach Angelique Kerber ist, ist auch die Geschichte einer ungewöhnlichen Entwicklung. Da ist zum einen natürlich ihre bekannte Auferstehung: Das frühere Riesentalent, bereits als neue Steffi Graf gefeiert, stand ja vor dem Karriere-Aus wegen Erfolglosigkeit. In jener Phase, in der sie mit dem Profitennis abschloss, begann tatsächlich ihr Aufstieg. Sie machte den Trainer-Schein, studierte Psychologie, schrieb die Bachelor-Arbeit zum Thema "Versagen unter Druck" - und spielte aus Spaß kleinere Turniere. Und siegte. Auch wenn sie ein Team hat, Siegemund hat sich den mentalen Zugang zu ihrem zweiten Karriereabschnitt alleine erarbeitet. Sie spricht über Tennis wie ein Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut, auf dem Platz wirkt sie wie eine Catcherin, die sich auf die Gegnerin wirft. Diese Verhaltensweisen sind kein Widerspruch. Sie bedingen sich gegenseitig. Während man sich manchmal bei anderen deutschen Spielerinnen Sorgen machen muss um ihre Robustheit, muss man bei Siegemund keine Angst haben.

Sie spricht gerne von "Units", zumindest im Englischen. So zerstückelt ihr Spiel wirkt mit den gefühlt tausend Stopps, Slice-Cross-Bällen, geblockten Returns und Rückhandschüssen, so sehr ergibt es ein großes Ganzes: "Das variable Spiel ist aufgebaut auf einer gut durchdachten Basis", sagt sie. Es gibt Spielerinnen, denen tut es gut, nicht zu viel zu denken. Siegemund ist eher der Einstein-Typ. Sie zerlegt sich selbst in Atome. Seziert sich. Und baut sich dann auf dem Platz zusammen. Es gibt kaum einen Moment, in dem sie sich nicht analysiert. Und wenn sie mal intuitiv den nächsten Stopp spielt, hat sie sich ja zunächst bewusst den Freiraum erteilt, diesen "Reflex", wie sie es nennt, zuzulassen. Siegemund existiert demnach als Aufschlägerin, als Returnspielerin, als die, die führt, als die, die hinten liegt, als die, die eine Fehlentscheidung ertragen muss. In Stuttgart kassierte sie beim Stand von 5:4 und 15:30 bei eigenem Aufschlag einen Strafpunkt. Die 4500 Zuschauer pfiffen laut, Mladenovic empfand diesen Moment später als "Albtraum". Siegemund steckte das Urteil weg. "Verschwendete Energie" wären Beschwerden gewesen. Als sie 1:4 im Tiebreak zurücklag, blieb sie im Moment. Was nützt es, an die Niederlage zu denken, wenn noch gespielt wird? Sie weiß ja: "Ich muss Lösungen finden"; darum geht es in jeder Sequenz. Auf dem Platz dachte sie nur: Mladenovic schlägt gut auf. Ihr erster Rückschlag muss aggressiver werden. Sie justierte gerade nach dem verlorenen zweiten Satz diese Schwäche. Ihrer Explosion beim Return ging also pingelige Selbstjustiz voraus.

2016 hatte sie in Stuttgart schon das Finale erreicht und erst gegen Kerber verloren. Insgesamt hat sie nun sechs Top-Ten-Spielerinnen bei ihrem Heimturnier besiegt, was sie stolz macht. Andererseits: Sie hat in diesem Fall einen anderen Maßstab: Sie unterteilt Gegnerinnen nicht nach Rang, sondern danach, wer ihr spielerisch liegt und wer nicht. Dann seziert sie wieder alle Aspekte und versucht, ihren Plan umzusetzen. Denn: "Auf dem Platz gibt es keine Theorie." Was auch auffällt: Sie hadert nicht lange, sie lässt sich oft Abdrücke zeigen, sie ist immer unruhig und nicht wirklich introvertiert. Sie ist unbequem, weil sie auch die Gegnerin mental herausfordert. Bei manchen ecke sie auch an, ist zu hören. Zurzeit trägt sie beim Spielen im Übrigen Kompressionsstrümpfe. Wenn sie dadurch ein Prozent länger laufen kann, habe es sich gelohnt. So sieht sie das. Ja, sie ist anders als manche Fed-Cup-Kollegin.

Ihre Defizite kennt sie natürlich auch: Sie hat Probleme, wenn die Gegnerin das Tempo hochhält. Sie reizt das Risiko manchmal zu sehr. Und sie kann ihr Spiel nicht auf allen Belägen zur Entfaltung bringen, das Grätschen, Wuchten, Hechten geht am besten auf Sand. Sie muss nun auch dafür Lösungen finden, aber nicht sofort. In Stuttgart galt es erst mal, ihren "schönsten Tennismoment" zu genießen.

© SZ vom 02.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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