Tennis:Anarchie auf Court 17

Lesezeit: 4 min

Der Brite Marcus Willis, immer noch wohnhaft bei seiner Mutter und die Nummer 772 der Welt, steht in der zweiten Runde im Turnier von Wimbledon - dort trifft er auf Roger Federer.

Von Gerald Kleffmann, Wimbledon

Der Mann, der am Dienstag auf allen Titelseiten in London ist, weiß: Er war vor nicht langer Zeit "ein fetter Junge". Das, was gerade mit ihm passiert, sei daher "surreal", "lächerlich", "angenehm", "ein Traum". Dass Marcus Willis trotzdem noch alle Sinne beisammen hat, bewies er mit seiner britischem Humor absolut würdigen Antwort auf die Frage, was er über den nächsten Gegner denke: "Ich bin nicht sicher, ob er auf Gras spielen kann."

Sein nächster Gegner ist: Roger Federer, siebenmaliger Champion von Wimbledon. Der Schweizer war 302 Wochen lang die Nummer eins der Welt. Eine Ikone, über die David Foster Wallace eine Hymne schrieb. Status quo von Willis: Nummer 772 der Welt. Lebt bei den Eltern. Früher speckig. Mal als "Eric Cartman" verspottet, nach dem dicken Jungen in der TV-Serie South Park. Ein paar Erfolge hatte er als Teenager und war doch ein Vagabund ohne große Perspektive. Im Februar wollte er hinwerfen. Trainer in Philadelphia werden, 30 Pfund die Stunde verlangt er aktuell. Federer kann in Wimbledon die 100 Millionen Dollar knacken.

Jetzt kommt es am Mittwoch zu einem Duell, das es so nie gab. Und alles wegen einer Frau, wegen Liebe auf den ersten Blick. "Ich lass es laufen", sagte Willis am Montag, als es wieder lief. Er ist fassungslos wie so viele. Er ist der am niedrigsten platzierte Spieler in der zweiten Runde eines Grand Slams seit 1988, als Jared Palmer als 923. bei den US Open Ähnliches glückte.

Seine Geschichte ist eine, die man verfilmen müsste. Das Bizarre: Es gibt diesen Film schon, er heißt, kein Witz: "Wimbledon". Eine Romantikkomödie, ein Loser, der Tennis spielt, verliebt sich und siegt plötzlich. Willis kennt den Film nicht. Er lebt ihn aber. Wäre er Anfang des Jahres nicht der Zahnärztin Jennifer Bate begegnet, Mutter von zwei Kindern, Willis aus Slough würde jetzt in den USA Kindern und auch älteren Damen Unterricht geben. Machte er ja kürzlich noch, im Warwick Boar Club bei Birmingham. "Kein Problem" sei diese Arbeit. "Das hält mich am Boden."

Fußballstimmung in Wimbledon: Marcus Willis lässt sich von seinen Freunden nach seinem 6:3, 6:3, 6:4-Sieg gegen den litauischen Weltranglisten-54. Recardas Berankis gratulieren. (Foto: Clive Brunskill/Getty)

Bate sagte zu Willis, du bist ein Idiot, wirf die Tenniskarriere nicht weg. "Ich machte, was sie sagte", sagte er zu dieser Zeit vor wenigen Monaten. Bis dahin hatte er nicht viel vorzuweisen. Aber mit 25 noch Chancen. Sein Karriereverdienst beträgt 69 500 Pfund. 2014 versuchte er durch Crowdfunding, Geld zu generieren. Sein Verdienst 2016 betrug 356 Dollar. Die erhielt er im Januar in Tunesien. In Wimbledon hat er 50 000 Pfund sicher. Andy Murray twitterte: "Eine coole Geschichte." Goran Ivanisevic, Willis' Idol, Champion von 2001, klopfte ihm auf die Schulter. Federer hielt eine Eloge auf ihn. "Das ist eine dieser Geschichten, die wir im Sport brauchen", sprach er nach dem 7:6, 7:6, 6:3- Erstrunden-Sieg gegen den Argentinier Guido Pella. "Es wäre nett von ihm, wenn er mir erzählen würde, wie er sich entschied, weiterzumachen, hier in die Vorqualifikation zu gehen. Was in ihm vorging." Federer weiß, dass da draußen Hunderte Spieler wie Willis ihr Glück versuchen. Einer hat's jetzt geschafft, für einen Augenblick. Das fasziniert auch ihn, als Sportfan.

Wie Willis spielt, weiß Federer schon, er hat ihm beim Warmspielen zugeschaut, auf einem Monitor. "Ein wenig old school", findet Federer ihn, Willis schlage viel slice, chippe den Return, renne vor, um dann wieder hinten zu sein. "Unorthodox" findet Willis sein Spiel. Die Fans lieben ihn dafür, die Fangemeinde ist groß inzwischen.

Vor einigen Wochen war er, die Nummer 23 in England, nur dank einer Wildcard als letzter Starter für die britischen Pre-Quallies zugelassen worden. Bate hatte ihn da schon umgepolt. Er war schlanker. Er war im Fitnessraum. Er gewann drei Matches und rutschte in die echte Quali für Wimbledon, in Roehampton um die Ecke. Willis besiegte den Japaner Yuichi Sugita, Nummer 99 der Welt. Nie hatte er, der Linkshänder, einen Top-100-Mann bezwungen. Er besiegte den Russen Andrej Rublew, der als Riesentalent gilt, er besiegte dessen Landsmann Daniil Medwedew - Wimbledon, Main Draw, war die Belohnung. Regionalligist MSC Köln, für den Willis spielte, meldete dies sofort stolz im Internet.

30 Pfund die Stunde verlangt Marcus Willis als Tenniscoach. In Wimbledon hat er nun 50 000 verdient. (Foto: Stefan Wermuth/Reuters)

Montag, Church Road, so vieles hier wirkt distinguiert, alles wird kontrolliert, die Rasenlänge, die berühmte Queue, der Feueralarmtest findet jeden Morgen zur selben Sekunde statt. Aber auf Court 17 ist Anarchie, für hiesige Verhältnisse. Willis spielt. Gegen den Litauer Ricardas Berankis, Nummer 54 der Welt, ein kompakter Wühler, gecoacht vom Ex-Profi Rainer Schüttler. Fans zerren an der Stoffbandbegrenzung bei Punktgewinnen. Sie singen: " Willbomb's on fire!" Und: "Zieht die Schuhe aus, wenn ihr Willis liebt!" Dann ziehen sie Schuhe aus, halten sie hoch - Willis macht es einmal auch. Ob er die Nummer erklären kann? "Kann ich nicht", sagte Willis, der nach dem 6:3, 6:3, 6:4-Triumph zu seinem Clan lief, alle umarmte. Auch Jennifer war dort. Weil Geräte in der Praxis ausfielen, sagte sie Patienten ab und kam. "Es wird immer seltsamer", sagte Willis dazu, der nun Kult ist. Viele Fans trugen ein Stirnband wie er. Mini-McEnroes, anno 2016 für einen Tag, eine Runde - oder zwei?

"Ich werde wohl nicht gewinnen", sagte Willis zum Match gegen Federer. Seit er die Quali spielte, checkt er jeden Morgen im Hotel aus, weil er denkt: Das war's. Mittwoch wird er es wieder tun, er ändert jetzt nichts mehr im Ablauf. Er isst jeden Abend das gleiche Gericht. "Pasta mit Tomaten, Paprika und Huhn", sagte Willis, während vor ihm Reporter der BBC, der New York Times, aus Australien, China und Deutschland saßen. Er grinste: "Echt interessant."

Marcus Willis lässt es einfach laufen.

© SZ vom 29.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: