Stabhochsprung:Gemeinsam in der Zauberschule

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Der US-Amerikaner Sam Kendricks sticht aus einer unerhört starken Weltspitze heraus - auch, weil er seinen schweren Individualsport als Teamleistung begreift. Er zeigt eine Konstanz, die selten ist im Stabhochsprung.

Von Johannes Knuth, München

Wenn Sam Kendricks gefragt wird, wie er zum Stabhochsprung kam, dann erzählt er gerne zwei Geschichten - eine wahre und eine lustige. Die wahre geht so, dass in Amerika seit 1972 der Title-IX-Paragraf in der Verfassung festgezurrt ist, der Frauen gleiche Chancen in der Bildung ermöglichen soll. Auch im Schulsport. Als Kendricks zur High School in Mississippi ging, war seine Schule eine der ersten, die Stabhochsprung auch für Schülerinnen anbot. Und Kendricks Vater trainierte an der Schule damals das Leichtathletik-Team, er ließ den Sohn - "einen hageren Knirps, der nie bei den Stabhochsprung-Jungs hätte mitmachen dürfen", wie Kendricks sagt - zumindest bei den Mädchen mittrainieren. "Die haben mich im Wettkampf ständig fertiggemacht", erinnert er sich, aber ohne diesen Title IX hätte sich der Knirps wohl nie in diese verflixt schwere Disziplin verguckt, in der er sich mal zu einem Rekordmann aufschwingen würde.

Und wenn ihn die Leute nach der lustigen Geschichte fragen, dann sagt Kendricks meist: "Der Witz ist, dass die wahre und die lustige Geschichte dieselbe ist."

Amerikas Leichtathleten rücken gerade mal wieder in den Fokus, jetzt, da die späte WM in Doha (ab 27. September) endlich in Sichtweite ist. Zum einen ist da Christian Coleman, der 100-Meter-Sprinter, der drei Dopingkontrollen verpasst haben soll und dem nun eine Sperre droht. Zum anderen verfügt das US-Team noch immer über eine teils aberwitzige Tiefe, die bei der WM schwer zu übertreffen sein dürfte. Kleine Kostprobe? Dreispringer Will Claye sprang in Paris zuletzt 18,06 Meter, Ende Juni hatte er sogar 18,14 Meter geschafft, die drittbeste Weite der Historie also. Der 22 Jahre alte Noah Lyles gewann über 200 Meter in 19,65 Sekunden, und Kendricks, ach ja, der überflog mal wieder 6,00 Meter, nachdem er neulich, bei den US-Titelkämpfen, den Landesrekord auf 6,06 geschraubt hatte. Man nimmt das mittlerweile fast gleichgültig zur Kenntnis, so routiniert überführt der 26-Jährige eine Höhe nach der nächsten in die Bestenlisten, einerseits. Andererseits kennen noch immer nur wenige den Menschen hinter den Sprüngen - einen, "der diesem knallharten Individualsport mit Großherzigkeit begegnet", wie die New York Times einmal befand.

In sechs Metern Höhe ohne Netz und doppelten Boden: US-Rekordhalter Sam Kendricks bei der Arbeit. (Foto: Thomas Frey/Imago)

In alle Tiefen eines Athletenkörpers kann man ja nie schauen, aber es wirkt zumindest plausibel, wie Kendricks sich allmählich in die Spitze seines Sports gehoben hat. "Ich war nie gut in den anderen Disziplinen", hat er einmal erzählt, "aber als ich mit Stabhochspringen angefangen habe, haben die Leute gesagt: 'Guck mal, wie der kleine Kerl springt!' Das hat mir einen stillen Stolz verliehen." Er war auch nie der Schnellste oder Stärkste oder Sprungkräftigste, aber er war überall ganz ordentlich, und so setzte er nach und nach das riesige Puzzle des Stabhochsprungs zusammen: Anlauf, Absprung, Stabbiegung, eine turnerische Drehung in sechs Metern Höhe, ohne Netz - eine Bewegung also, die leicht aussieht, aber beim kleinsten Störfall auseinanderbröckelt. "Ich liebe Stabhochspringen", sagt Kendricks, "auch weil es so frustrierend ist."

Viele mögen weiter den hochbegabten Zauberschüler Armand Duplantis bewundern, der im Vorjahr, mit 18, schon 6,05 Meter überflog - Kendricks führt dafür eine selten erreichte Konstanz in diesem Sport auf, der ja nie so ganz zu bändigen ist. Sein jüngster US-Titel war sein sechster nacheinander, 2016 gewann er Olympia-Bronze, 2017 WM-Gold, und er wird auch in den kommenden Wochen der Fixpunkt sein: beim Finale der Diamond League in Zürich am Donnerstag, beim Berliner Istaf am Sonntag und bei der WM. Er wird bis heute von seinem Vater betreut, "Coach K", der ihm einst in Mississippi diese piekfeine Technik beibrachte; das erzählt schon einiges über seine Konstanz. Kendricks springt bis heute, auf Anraten von Coach K, bloß 4,90 Meter lange Stäbe, aber er schöpft die Energie, die er in den Stab fließen lässt, so gut aus wie kaum ein anderer. "Manchmal musst du Dinge tun, die alle tun", sagte Kendricks nach seinem US-Rekord, "manchmal tust du, was für dich am besten ist."

Das ist so eine typische Sam-Kendricks-Antwort. Eine, die er mit einer Mischung aus militärischem Befehlston, Einfühlvermögen und dem Dialekt eines Steakhouse-Kellners aus den Südstaaten vorträgt. So redet Kendricks auch dann, wenn er erzählt, wie er seine Konkurrenten während des Wettkampfs über ihre Familien ausfragt, wie er ihnen Tipps gibt, als würde er sie trainieren, kurzum: Warum er seinen Individualsport als Teamleistung begreift. "Ich bin da manchmal echt aufdringlich", sagt er; aber er wolle nun mal, dass auch die Konkurrenz ihr Bestes gebe, das treibe ihn wiederum dazu, sein Potenzial abzurufen. Wie gut das klappt, zeigt schon ein Blick in die Weltjahresbestenliste. "Und was bringt dir denn der Erfolg", sagt Kendricks, "wenn du ihn nicht mit anderen genießen kannst?"

Wenn man sich eine Weile mit ihm beschäftigt, stellt man fest: Viel mehr Made in USA geht kaum. Da ist dieser unerschütterliche Optimist, der nach der Universität aus Liebe zum Vaterland bei den Reservisten der Armee diente und 2016 bei Olympia einen Anlauf abbrach, um der US-Hymne bei einer Siegerehrung zu lauschen. Ob er denn mal als Präsident kandidieren werde, fragte ihn ein Reporter zuletzt, eher im Scherz. Kendricks schmunzelte, dann sagte er, recht ernst: "Ich will auf jeden Fall eine wichtige Rolle in meiner Community ausfüllen." Ein glasklares Nein war das jedenfalls nicht.

© SZ vom 27.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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