Skispringen:Schatten über dem Kulm

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Der österreichische Skispringer Müller stürzt schwer und verletzt sich den Halswirbel - wohl wegen eines Materialfehlers.

Von Volker Kreisl, Bad Mitterndorf/München

Diese Skiflug-WM war wie immer als unbeschwertes Fest geplant, als Präsentation des Fliegens. Doch schon vor Beginn steht fest, dass daraus nichts wird. Die WM in Österreich am legendären Kulm ist überschattet von einem weiteren schweren Sturz in diesem Sport. Der Österreicher Lukas Müller, 23, hat sich beim Einspringen eine schwere Verletzung der unteren Halswirbelsäule zugezogen. Nach einer Operation sei er zwar stabil, erklärte der Österreichische Skiverband, doch "aufgrund der Schwere der Verletzung ist eine neurologische Symptomatik nicht auszuschließen".

Müller hatte über Lähmungserscheinungen geklagt. Wie häufig bei Rückenverletzungen lässt sich zunächst keine seriöse Prognose über den Heilungsverlauf stellen. Auch über die Ursache für Müllers Sturz konnte nur spekuliert werden. Im Springerlager herrschte am Donnerstag Betroffenheit und entsprechende Unsicherheit. "Der Schock sitzt tief, da ist es schwierig, den Fokus auf den Sport zu richten", sagte Österreichs Bundestrainer Heinz Kuttin. Auch die Springer des Deutschen Skiverbands zeigten sich tief betroffen. Werner Schuster, der österreichische Chefcoach des deutschen Teams, hatte Müller als Jugendspringer betreut.

Die Gefährlichkeit dieses Sports mit seinen gewaltigen Kräften wird nun wieder diskutiert

Gestürzt ist Müller bei 120 Metern. Nachdem sein Flug plötzlich abbrach, war er in Rotation geraten und rücklings auf den Hang geprallt. Der Grund soll ersten Einschätzungen zufolge das Material sein. Von Müllers Sturz gibt es eine Videoaufnahme, die nicht der Öffentlichkeit zugänglich ist. Angeblich soll darauf zu sehen sein, wie sich eine Schnalle am linken Schuh in dem Moment öffnet, als Müller die höchste Flughöhe erreicht hatte. Kurz darauf verlor er den Ski; unklar ist, ob er aus dem Schuh gerutscht war oder ob sich dieser erst bei der Landung gelöst hatte. Müller wurde nach einer Erstversorgung per Helikopter abtransportiert und in der Uni-Klinik Graz operiert. "Nun gilt es, die erste postoperative Phase abzuwarten, um weitere Aussagen treffen zu können", heißt es beim ÖSV.

Diskutiert wird nun dennoch die Gefährlichkeit dieses Sports, besonders des Skifliegens mit seinen gewaltigen Kräften. Vor zwei Jahren stürzte am Kulm der österreichische Erfolgsspringer Thomas Morgenstern, bald danach hörte er auf. Nicholas Fairall, ein junger US-Amerikaner, zog sich vor einem Jahr in Bischofshofen eine Wirbelverletzung mit Lähmungen zu. Im selben Wettkampf stürzte der Schweizer Olympiasieger Simon Ammann so schwer, dass er das Bewusstsein verlor.

Fairall erklärte jedoch kürzlich, Skispringen sei ein "unglaublich sicherer Sport", in dem eben ein Restrisiko bleibe. Und auch nach diesem Unfall wiesen Vertreter der Branche darauf hin, dass die meisten Springer ihren Sport begeistert betreiben, der Deutsche Severin Freund liebt besonders das Skifliegen, er tritt am Kulm als Titelverteidiger an. Horst Hüttel, Sportlicher Leiter fürs Skispringen beim DSV, sagt, man bewege sich zwischen dem Reiz, den die Gefahr manchmal bringe, und einem verantwortungsvollen Umgang: "Es ist ein Zwiespalt, in dem wir leben."

Das Restrisiko wird oft genannt, manchmal geradezu reflexhaft. Dabei ist es eine Größe, die nicht greifbar, die von Springer zu Springer unterschiedlich ist. Bei Noriaki Kasai, dem 43-jährigen Japaner, ist das Restrisiko verschwindend gering, bei einem jungen Springer, der den Durchbruch schaffen will, ungleich höher. Manche Trainer schicken ihre Springer bei jedem Wind in die Spur, manche widersetzen sich, auch wenn die Ampel auf grün steht, sagt Hüttel. Generell hat Verantwortung im Sport mit Verzicht zu tun, mit der Kontrolle des eigenen Ehrgeizes und mit dem Verzicht auf einen möglichen Durchbruch.

Lukas Müller, der 23-jährige ehemalige Junioren-Weltmeister, der wieder in das ÖSV-Team zurück wollte, ist wohl nicht durch überzogenen Ehrgeiz verunglückt. Der Riemen am Schuh hatte sich geöffnet, womöglich war er gerissen. Das wäre also ein Materialfehler. Hinnehmbar ist der aber genauso wenig.

© SZ vom 15.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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