Skispringen:Euphorie vor der Tournee

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Sprung vorm Alpenpanorama: Karl Geiger fliegt zu seinem ersten Weltcup-Sieg im schweizerischen Engelberg. (Foto: Fabrice Coffrini/AFP)

In Engelberg gewinnt der Oberstdorfer Karl Geiger erstmals ein Weltcup-Springen. Gemeinsam mit dem Sechsten Stephan Leyhe übernimmt er gerade den Job der erfahrenen, aber schwächelnden Mitstreiter.

Von Volker Kreisl, Engelberg

Alle Prognosen waren verglichen, alle Statistiken noch einmal hervorgekramt, Entwicklungskurven des bisherigen Winters betrachtet, dazu der lästige Engelberger Rückenwind einkalkuliert, der den Fliegertypen unter den Skispringern traditionell zusetzt. Und dennoch, als Favoriten galten wieder einmal die Ersten im Gesamtweltcup, also zum Beispiel die Polen Piotr Zyla und Kamil Stoch, und natürlich auch der zurzeit so überragende 20-jährige Japaner Ryoyu Kobayashi.

Der Oberstdorfer Karl Geiger? Klar, er war vor dem Springen Gesamtsechster aller Skispringer gerade, und auch in der Form seines Lebens. Aber dass er im entscheidenden Moment die Nerven behalten würde, um sich nach gut sechs Jahren im Weltcup mal so richtig abzusetzen, damit rechnete kaum einer. Dann aber glitt Geiger am Samstagabend als Fünfter des ersten Durchganges in der Anlaufspur, hechtete punktgenau zum richtigen Zeitpunkt hinaus in die Luft, trotzte dem Rückenwind, überflog den K-Punkt von 125 Metern, die Hill-Size von 140 Metern, ab dem es mit Landungen riskant wird. Und kam bei 141 Metern auf. Wie sich gleich herausstellen sollte, war das zu weit für alle anderen.

Karl Geiger vor Piotr Zyla aus Polen und Daniel Huber aus Österreich: Auf dem Podium standen also drei Springer mit großen Anlagen, aber bislang auch mit latenten Problemen beim Verwirklichen derselben. Sie alle galten einst als Hoffnung ihrer Nationaltrainer, stagnierten aber irgendwie auf mittlerem Niveau. Huber etwa war schon Schulbankgefährte des österreichischen Weltmeister und Vierschanzen-Sieger Stefan Kraft auf dem Skigymnasium Stams. Und Zyla, bereits 31, galt in Polens Spitzenteam lange als viertbester Mann, weil er, wie Polens Trainer Stefan Horngacher sagt, seine Energie für alles Mögliche verbraucht habe, nur nicht für seine eigene Sportkarriere.

Wellinger, Freund und Freitag springen noch zu kurz

Geiger ist erst 25 Jahre alt, was kein Alter für Skispringer ist. Sein Sieg ist sicherlich mehr als das Ergebnis eines einzelnen, glücklichen Tages in Engelberg. "Ich bin überglücklich, dass das heute so gelungen ist", sagte Geiger, nach dem Springen Gesamt-Fünfter, leicht euphorisiert. Weil bei seinem Sprung alles zusammengepasst hat, ein Gefühl, das ihm so nicht geläufig ist. "Man merkt schon beim Absprung", berichtete er, "jetzt hab' ich es erwischt, du bist schnell und wirst immer höher, und dann denkst du: jetzt nur noch durchziehen, und einen Telemark landen." Geiger stand die Landung, und dass er dann beim Abschwingen beide Fäuste ballt, in der Ahnung, dass dies für ganz oben reichen kann, das hat man von ihm auch noch nicht gesehen.

Zwar hatte der Oberstdorfer als bestes Ergebnis im Weltcup bislang nur einen zweiten Platz im Jahr 2016 errungen, zudem war er nach erfreulichen Entwicklungen immer wieder in alte Muster zurückgefallen. Doch schon im vergangenen Winter begann er verlässlicher zu springen. Geiger zählte zum Silber-Quartett im Teamspringen der Olympischen Winterspiele von Pyeongchang und belegte Platz sieben auf der Großschanze. Doch Einzel-Erfolge jenseits des Podiums erregen beim medaillenfixierten Olympia oft weniger Aufsehen als ein zweiter Gesamt-Platz in einem Skisprung-Sommer-Grand Prix. Den erreichte Geiger kürzlich, und in den ersten Wochen der Saison brach dann endgültig die Zeit der ehemaligen deutschen Ergänzungsspringer an. Denn neben Geiger erreichte auch der Willinger Stephan Leyhe, 27, endlich dauerhaft einen vorderen Platz im Gesamtranking, in Engelberg wurde er Sechster. Nun übernehmen die beiden gerade den Job, den zuletzt Olympiasieger Andreas Wellinger, Richard Freitag und vor seinen Knieoperationen auch Severin Freund erfüllten.

Dass dieses Geiger-Märchen nun so weiter geht, ist durchaus möglich, allerdings ist ein Sieg in Engelberg nicht automatisch eine bestandene Generalprobe für die Vierschanzentournee. Mit dem ersten Springen in Oberstdorf sind schon häufiger die Träume der Topstarter des aktuellen Winters geplatzt. Außer Kobayashi gilt dort keiner als Favorit, und der Japaner mit dem überragenden Absprung zeigte in Engelberg als Siebter erstmals Schwächen. Womöglich entscheidet wieder die Erfahrung, wie im vergangenen Jahr beim späteren Sieger Kamil Stoch aus Polen. Für Werner Schuster, den deutschen Cheftrainer, ist das eine komfortable Situation. Seine Erfahrenen, Richard Freitag und Andreas Wellinger, zeigten trotz hinterer Plätze am Samstag in Engelberg, dass ihre Sprünge allmählich besser werden. Und seine ehemaligen Zweite-Reihe-Springer Geiger und Leyhe, dass bei ihnen alles möglich ist.

© SZ vom 16.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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