Skispringen:Einer fehlt auf dem Podium

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Zu weit geflogen: David Siegel landet im zweiten Durchgang weit hinter dem Maximum der Schanze, sein rechtes Knie hält den Kräften nicht stand. (Foto: Janek Skarzynski/AFP)

Weil die Jury die Weitenjagd nicht bremst, verletzt sich David Siegel wohl schwer am Knie. Dass die Deutschen trotzdem gewinnen, wird zur Nebensache.

Von Volker Kreisl, Zakopane/München

Niemand lachte. Höchstens ein schmales, höfliches Lächeln rangen sich die drei deutschen Skispringer auf dem Podium ab, auf dem sie nun für ihren ersten Sieg im Teamspringen in diesem Winter gewürdigt wurden. Sie spürten gerade keine Lust, sich über einen sportlichen Durchbruch zu freuen, stattdessen hatten die drei noch ein viertes Paar Sprungski mitgebracht. Es gehörte David Siegel, dem vierten Mann im Team-Quartett an diesem Tage, der lag aber im Krankenhaus.

Dessen Schmerzen im rechten Knie hatten da vielleicht schon Medikamente gestoppt. Eine Diagnose war noch nicht bekannt, so schnell geht das nicht bei Knieverletzungen, zu befürchten war eine lange Verletzung, vielleicht ein Kreuzbandriss. Bewiesen war aber schon in diesem Moment, dass das Skispringen nicht vollends beherrschbar ist und einer der vielen Einflüsse in diesem Sport sogar die Sieger plötzlich zu Boden reißen kann. Dass es also vom großen Spektakel und Zuschauervergnügen schlagartig zur Farce werden kann.

David Siegel, der 22 Jahre alte Baiersbronner, war an diesem Samstag in herausragender Form. Zwar ist er noch jung, aber seine Sprungkraft ist bekannt, seine Fähigkeit, dem Rückenwind zu trotzen, ebenfalls. Er hatte schon im ersten Durchgang eine beachtliche Weite von 135 Metern vorgelegt, und im zweiten steigerte sich der Wettkampf zu immer weiteren Flügen, Teamkollege Markus Eisenbichler stellte einen neuen Schanzenrekord von 143 Metern auf, was Zuschauer immer jubeln lässt, während Trainer und Betreuer auch skeptisch werden. Und die Sorge beim deutschen Coach Werner Schuster war berechtigt, denn die Jury verkürzte den Anlauf und damit die Flüge nicht. Siegel stürzte sich hinaus, stieg hoch in die Luft, flog weit nach unten, überquerte den als Maximum berechneten Hill-Size der Schanze, und als er aufkam, quasi jenseits der Landebahn, da hielt sein Knie den Kräften nicht mehr stand. Es knickte nach rechts weg, Siegel stürzte, fasste sich gleich ans Bein und wurde schließlich auf einer Trage aus dem Stadion transportiert.

Die 25 000 Zuschauer waren längst verstummt, vielleicht auch deshalb, weil sich die Polen für diesen Sport stark interessieren und manche vielleicht wussten, dass Siegels Sport ihm gegenüber gerade besonders zynisch war. Schon als Teenager galt er als Talent, im Herbst 2016 hatte er die deutsche Meisterschaft gewonnen und war im darauffolgenden Winter drauf und dran, in die Weltcupmannschaft aufzurücken. Dann aber verletzte sich Siegel am Sprunggelenk, und es folgte eine knapp zweijährige Wiederaufbauphase, mit Operation, Physiotherapie, Nachwuchscup-Auftritten, immer besserer Form und schließlich dieser Spitzenverfassung. Mit Siegel war in Zakopane der märchenhafte Wandel von Schusters Team vollbracht: Die Weltmeister und Olympiasieger von gestern stecken zwar im Formtief, dafür aber springen wie auf Befehl in diesem Winter die Durchschnittsspringer auf die Podeste. Darauf sind diese - doch nur scheinbaren - Durchschnittsspringer durchaus stolz, was in Siegels Zwischenkommentar nach seinem ersten Sprung durchklang: "Deutschland ist geschlossen stark", sagte er.

Aber Skispringen ist eben kein Märchen, zum einen begehen die Springer selber immer wieder gefährliche Fehler in der Luft, wie David Siegel nun auch bei seinem Landeanflug, der unsicher wirkte. Zum anderen hätte es zu dieser prekären Lage erst gar nicht kommen dürfen. Die Wettkampfjury hatte die Bedingungen zu optimistisch eingeschätzt. "Es war ein großer Fehler, nach Eisenbichler den Anlauf nicht zu verkürzen", erklärte Schuster, und tatsächlich ist es nicht nachvollziehbar, warum man darauf verzichtete. Alle Zeichen standen ja auf immer gefährlichere Weiten: der störende Rückenwind hatte fast komplett nachgelassen, und an die Reihe kamen nun die besten Flieger. Eisenbichlers neue Marke verbesserte der Pole Dawid Kubacki sogar noch um einen halben Meter.

Siegel reiste erwartungsgemäß am Sonntag nach Hause, um seine Verletzung näher untersuchen zu lassen. Bis dahin hatte er zumindest die Gewissheit, dass er keinen Bruch und keine andere knöcherne Verletzung erlitten hatte. Nach einer weiteren MRT-Untersuchung will Mannschaftsarzt Mark Dorfmüller über die bevorstehende Behandlung entscheiden. Bänderverletzungen im Knie erfordern in der Regel eine monatelange Regeneration. "Ich will nicht zu weit vorgreifen, aber ich glaube, wir haben diesen Athleten für die Saison verloren", sagte Schuster.

Die noch größere Herausforderung für den jungen Springer David Siegel stellt sich aber womöglich weniger bei der Überwindung seiner Knieverletzung als im Kopf. Seine Form, die er sich mühsam wieder erarbeitet hatte, hängt ja auch stark davon ab, wie gut er am Schanzentisch loslassen kann. Fast alle der zwischendurch schwächelnden Sieger der vergangenen Jahre - der Slowene Peter Prevc, der Deutsche Wellinger oder auch der Österreicher Stefan Kraft - ringen darum, wieder dieses Urvertrauen in den Sprung zu bekommen, die Fähigkeit, den Beinen bei 92 Stundenkilometern das Kommando zu überlassen, statt sich durch zu viel Kontrolle zu bremsen. Dieses Vertrauen muss sich Siegel nun wohl mühsam wieder zurückholen.

© SZ vom 21.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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