Vierschanzentournee:Skispringen: Wer sich kratzen will, fragt lieber!

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Stillgestanden! Vor dem Sprung wird jeder Athlet mit seinem Anzug penibel vermessen, hier der Österreicher Stefan Kraft in Lillehammer. (Foto: Eibner/Imago)
  • Neue Anzüge beschäftigen die Skisprung-Szene vor der Vierschanzentournee.
  • Weil die Athleten Zentimeter schinden wollen, werden sie kurz vor ihrem Sprung wie Autos beim TÜV begutachtet und vermessen.
  • Es könnte zu kuriosen Szenen kommen.

Analyse von Volker Kreisl

Blöd war das schon, sagt Alexander Stöckl, weil, "wenn deine halbe Mannschaft disqualifiziert wird, dann macht das keinen guten Eindruck". Stöckls Team sind die Norweger, und die sind vor dreieinhalb Wochen beim Skisprung-Weltcup in Lillehammer rausgezogen worden, vor Heimpublikum. "Da hast du was zu erklären", sagt Stöckl. Natürlich hätten sie nichts manipuliert an den Anzügen, es habe ihnen also gar nichts gebracht.

Andererseits: Weiß man's?

Am Montag beginnt die Vierschanzentournee, und jeder fragt sich, wer beim Auftakt am weitesten fliegt und den besten Start für die wichtige Serie erwischt. Das hat wie immer mit Balance und Sprungkraft zu tun, aber auch mit dem Material und einem Anzug, der die neuen Regeln am besten nutzt. Und weil Stöckls Norweger bisher, wenn sie nicht disqualifiziert wurden, sehr weit geflogen sind, wird nun spekuliert. Vielleicht kommen sie ja nur schnell in die Flugposition. Vielleicht haben sie nach langem Probieren aber auch endlich den idealen Anzug geschneidert - für eine Überraschung in Oberstdorf.

Es geht in dieser Skisprung-Saison mal wieder um den ewigen Kontrast zwischen Regel und Auslegung. Für die Einhaltung der Regel ist Sepp Gratzer zuständig. Der Materialprüfer des Weltverbandes Fis glaubt nicht, dass Skispringer grundsätzlich hinterlistig sind. Meistens läge ein Versehen vor, andererseits: "Ich habe das nicht zu beurteilen, ich habe nur festzustellen, ob's passt oder nicht." Ein Zentimeter ist ein Zentimeter, und der Millimeter, um den der letzte Zentimeter überschritten ist, ist auch ein Millimeter. Und dann springt der Betreffende nicht, sagt Gratzer, "sondern fährt gleich wieder runter".

Die neuen Regeln führen zu manch bizarren Szenen, dabei ist das Motiv einfach und nachvollziehbar: Der wesentliche Teil des Flugobjekts Skispringer soll optimiert werden. Der Bereich des unteren Rumpfes ist wie eine Tragfläche, diese wurde nun ein bisschen vergrößert, damit die Springer vor der Landung im Aufwind leicht abbremsen und sachter aufkommen. So weit die Theorie. In der Praxis haben Flugspezialisten aber sofort entdeckt, dass, wenn man den neuen Rahmen maximal ausnutzt, grandiose Weiten locken. Etwa so: Die Tragfläche wird erweitert, indem man dem Skispringer einen tiefer geschnittenen Schritt der Hose gestattet. Gedanklich geht das so in Richtung Haremshose, es ist aber tatsächlich kaum sichtbar.

Deshalb wird exakt gemessen, und weil der Springer ja schlecht kurz vorm Start den Anzug ausziehen kann, stellt er sich breitbeinig auf, wobei der Abstand zwischen dem Bein- und dem Hosenschrittmaß ermittelt wird. Maximal drei Zentimeter sind erlaubt. Neuerdings werden die Beine beim Messen weiter, auf 40 Zentimeter, auseinandergestellt, weshalb die Hose beim Normalstehen natürlich mehr flattert. Klingt kurios, aber ein paar Millimeter, sagt Gratzer, bringen unter Umständen gleich ein paar Meter bei der Landung.

Da können die Konkurrenten schon mal nachdenklich werden, wenn eine junge norwegische Mannschaft plötzlich sagenhaft springt. Und wenn der Trainer Stöckl aus Tirol mit legalen Erfindungen schon früher Erfolge hatte. Zum Beispiel, weil er einen leicht schrägen Schuh entwarf, der den Ski in der Luft plan wie einen Flügel stellte, genannt "Stöckl-Schuh".

Sepp Gratzer sagt, legale Erfindungen seien die Würze in diesem Sport. Aber er selber kann nur auf die Einhaltung der Regeln achten. Das tut er nun mit einem neuen Gerät, denn die Springer sind gewieft. Je nach Teil des Anzugs ist es beim Messen von Vorteil, sich größer oder kleiner zu machen, "da bringst du schon ein, zwei Zentimeter her", sagt Gratzer. Wird oben gemessen, drückte der Proband früher heimlich das Kreuz durch und zog die Schultern hoch, um zu viel Volumen im Anzug zu kaschieren. Wurde unten gemessen, ging er leicht in die Knie, um einen Haremshosen-Ansatz zu vertuschen. Damit ist jetzt Schluss. Gratzers neues Gerät koppelt Höhen- und Tiefenmessung, auch steht der Prüfling wie ein Auto beim TÜV auf zwei Rollen, die die Fersen nach unten drücken, und: mit dem Rücken zu einer Wand. Am besten, der Springer entspannt sich, denn er kommt seinem Prüfer eh' nicht aus.

Bei Verstoß heißt es: runterfahren statt runterspringen

Hört man Gratzer erzählen, dann kann man zwischendurch doch an das Verschlagene im Skispringer glauben. Denn neben dem Messgerät gibt es seit Beginn dieser Saison eine weitere Neuerung: einen Bewegungsmelder. Das ist ein Mann von der Fis, der tatsächlich Bewegungen meldet, und zwar falsche. Denn wenn ein Springer durch die Prüfung gekommen ist, darf er in den paar Minuten bis zum Abflug an seinem Anzug, wie es heißt, nichts mehr "manipulieren". Er darf sich zwar, etwa um warm zu bleiben, mit den Händen auf die Oberschenkel klopfen, aber er darf keine nach unten streifenden Bewegungen machen, eben nichts, was den Anzug und dessen Tragfläche erweitern könnte.

Juckt es einen Springer plötzlich, dann sollte er eine Kratzbewegung lieber anmelden, sagt Gratzer. Die Hüter achten auf die Regel. Und bei Verstoß heißt es: runterfahren statt runterspringen.

Gratzer findet das alles nicht witzig, denn die Möglichkeiten, Meter bei der Landung zu schinden, sind nun mal da. Die Grauzone der Spekulationen sind in einem ebenso empfindlichen wie mysteriösen Sport nicht zu unterschätzen. Und ein erfolgreicher Sprungtrainer wie Stöckl ist ja auch nicht von gestern. Er hat freundliche Augen, die aber einen listigen Glanz bekommen können. Stöckl weiß: Im Psychologie-Sport Skispringen ist kaum etwas hilfreicher als die Verunsicherung des Gegners. Sie bringt ihn aus der Balance.

Die Sache in Lillehammer sei einfach zu erklären, sagt Stöckl: Die neue Regel war in seinem Team nicht richtig weitergegeben worden, aber das hat er erst mal keinem gesagt. "Wenn alle verunsichert sind - warum soll ich das aufklären?", fragt Stöckl und grinst. Schön blöd wäre er.

© SZ vom 24.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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