Die Bedingungen waren diesmal hervorragend. Andreas Wellinger hatte als Viertletzter bald das gespürt, was ein Skiflieger sich erhofft, kurz nach dem Absprung: ein Luftkissen. Etwas Aufwind und somit eine Art wehender Untersatz, auf dem er ins Tal segeln konnte. Auf dem er die ganze Wonne eines langen Fluges, der ihn über die grüne Linie des Führenden sanft zur Landung trug, auskosten konnte.
Als der 28 Jahre alte Chiemgauer dann unten, deutlich erkennbar vom Rausch des Fluges beglückt, die Situation begriff, kam neben dem Erlebnis noch das Ergebnis hinzu: Wellinger hatte im Moment des Ski-Abschnallens Bronze bei der Skiflug-WM am Kulm, in Bad Mitterndorf/Österreich sicher. Denn soeben hatte er den Norweger Johann Andre Forfang überholt. Dann wandte er den Blick nach oben, wo noch zwei Konkurrenten warteten, und fünf Minuten später stand das Ergebnis fest: Neuer Skiflugweltmeister wurde Stefan Kraft, Wellinger holte Silber, und der 23-jährige Slowene Timi Zajc, zur Halbzeit noch mit gut zwölf Punkten Vorsprung führend, rutschte zurück auf Bronze, ging im Auslauf in die Knie und brauchte eine Weile, um diese WM zu verstehen.
Wenn sie das Fliegen abgebrochen hätten, dann hätte er wahrscheinlich was "zusammengehauen", sagt Wellinger
Eine Veranstaltung über zwei Tage mit vollkommen unterschiedlichen Bedingungen war es. Den ersten Tag hatte Wellinger als Vierter beendet, und zwar mit einem halben Punkt Rückstand, was er zunächst als Hoffnungsschimmer bewertete. Dies ist jedoch ein Freiluftsport, mehr noch, ein Luftsport, und da schauen die Protagonisten morgens erst mal aus dem Fenster. Die Halbierung des Programms drohte ja, eine WM mit nur zwei statt vier Durchgängen, denn das Wetter wollte sich nicht beruhigen. Als auch Wellinger erkannte, dass ein strammer Wind an Fahnen und Masten rüttelten, dachte er sich, wie er später sagte: "Wenn ich wegen 0,5 Punkten nur Vierter geworden wäre, dann hätte ich wahrscheinlich irgendwas zusammengehauen." Am Ende wurde es wenigstens noch ein weiterer Durchgang, der angesetzt wurde, insgesamt waren es also drei statt vier.
Und Wellinger blieb friedfertig und konnte seine ganze Energie in den entscheidenden Sprung stecken. Froh war er wie alle anderen, dass er diesen letzten Einsatz noch machen konnte und dass "der Sprung mir super gelungen ist und ich mich da vorne noch reingekämpft hatte". Genauer gesagt war dies ein nahezu perfekter Flug. Nur einmal wackelte er auf seiner Reise ins Tal zwischendurch mit der rechten Skispitze, aber nur ganz leicht, und es wirkte eher, als würde er mit der Skispitze kurz die Fans grüßen.
Die gesamte Veranstaltung war an diesem Samstag vom Wind ein bisschen ausgebremst worden, es war, als hätte man sie für ein paar Stunden mal eben auf dem Seitenstreifen geparkt. Denn fast alles, was sich beim Freiluftsport den Protagonisten in den Weg stellen und zur Gefahr werden konnte, das drohte dieser Weltmeisterschaft an diesem zweiten Tag.
Die Schatten wurden länger, die Sonne wurde schwächer - aber nirgendwo ein Flutlicht
Zunächst, klar, der Wind. Der Sport mit der Schanze ist das gewohnt, deshalb gibt es Kompensationspunkte, um Rücken-, Seiten- und Aufwind entsprechend in die Bewertung einzugeben. Beim Skifliegen aber ist alles etwas größer. Die Schanze, die am Kulm Flüge auf bis zu 250 Meter erlaubt, die Geschwindigkeit des Fliegenden und das Risiko beim Telemark, der bei der Landung gezeigt werden sollte. Während des Fliegens sind solche Kunststücke bei einer bestimmten Windstärke lebensgefährlich, weshalb die ursprüngliche Startzeit des zweiten Tages, 14 Uhr, erst mal um eine halbe Stunde verschoben wurde. Dann aber noch mal und noch mal. Und dann noch ein letztes Mal, um 15.30 Uhr konnte es endlich losgehen.
Doch so schön die Natur in dieser Gegend der Steiermark ist, mit dem Kulm, dem Hügel, auf dem die lange Schanze liegt - die Veranstalter hatten immer noch keine Ruhe. Denn die Schatten wurden immer länger, die Sonne tauchte die Felsen schon in ein warmes, abendliches Dunkelgelb. Und wer sich fragte, wann denn das Flutlicht endlich angehe, dem wurde schnell klar: Lichtmasten gibt es hier nicht.
Neben dem Wind saß den Veranstaltern und der Jury also ein zweites Problem im Nacken: die Zeit. Der Wettkampf musste mit einer gewissen Geschwindigkeit durchgezogen werden, eine wegen Lichtmangels abgebrochene WM wäre auch peinlich geworden. Andererseits hatte der Schanzensport neben dem Wind und dem Zeitdruck wegen schwindendem Licht ein weiteres Problem, die Gerechtigkeit. Weil diese Weltmeisterschaft es im letzten Durchgang eilig hatte, wurde jeder Flieger, der gerade mal sicher runterkommen würde, in die Spur geschickt, ob bei bremsendem Rücken-Starkwind oder nicht. Nur die schlimmsten Bedingungen wurden berücksichtigt, weshalb zum Beispiel Teilnehmer wie der hochdekorierte Skispringer Peter Prevc aus Slowenien aufgrund einer Böe schon auf halber Strecke aufsetzte.
Viele hatten unter diesen Umständen keine Chance auf eine bessere Platzierung, auch deshalb, weil eine weitere Verschiebung nicht mehr möglich war, obwohl vorhergesagt war, dass am Sonntag dem Wind am Kulm der Atem spätestens mittags ausgehen würde. Jedoch - für Sonntag war ja schon das Team-Fliegen angesetzt.
Immerhin, die Top Ten, die Besten, die am Samstag kurz vor Einbruch der Dunkelheit sprangen, durften noch mit gerechten Umständen rechnen. Und natürlich, jene vier, die noch um den Titel sprangen, bekamen genügend Zeit für faire Bedingungen beim Absprung, bei einem langen, langen Flug und einer letzten Landung.