Russland:Ein Bein Gottes

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Sprung ins Glück: Die russischen Spieler (von links: Alexander Jerochin, Wladimir Granat, Fjodor Smolow und Alexander Golowin) sind nach dem Erreichen des WM-Viertelfinals ekstatisch. (Foto: Yuri Cortez/AFP)

"Das ist erst der Anfang": Im sonst so skeptischen Russland beginnen die Träume über den Finaleinzug bei der Heim-WM. Die Politik feiert mit.

Von Johannes Aumüller, Moskau

Am Tag nach dem wundersamen Ereignis veröffentlichte die Pressestelle der russischen Nationalmannschaft ein Video, und diese Szene musste einem sofort bekannt vorkommen. Auf dem Video war Igor Akinfejew zu sehen, der Schlussmann der Sbornaja, er stand im Tor, Elfmeter, Akinfejew warf sich auf die Seite, der Ball kam scharf in die Mitte, und dann, im allerletzten Moment, brachte Akinfejew mit einer artistischen Zuckung sein Bein nach oben - gehalten.

Aber nein, es war auf diesem Video nicht die Szene zu sehen, die am Sonntagabend das Moskauer Luschniki-Stadion in eine solche Ekstase versetzte, dass es trotz seiner stabilen Bauweise kurz vor dem Einsturz zu stehen schien. Der Himmel war nicht wolkenverhangen, sondern hellblau, es war nicht das Luschniki, sondern die Trainingsbasis in Nowogorsk, und im Übrigen warf sich Igor Akinfejew im Video auf die linke Seite, um das rechte Bein hochzureißen, und nicht wie im Spiel am Sonntag auf die rechte Seite, um das linke Bein hochzureißen. Aber was machte das schon? "Wir verraten ein Geheimnis: Artjom Dsjuba hat Igor Akinfejew im Training beigebracht, diesen Elfmeter zu halten", textete die Pressestelle dazu.

Nach Kroatien käme der Gegner aus dem Quartett Schweden, Schweiz, Kolumbien, England

Russland gelingt also alles bei dieser WM. Russland gelingt es sogar, vorauszusehen, wohin der letzte spanische Schütze in einem Elfmeterschießen zielen wird. Mit einem 4:3 gegen den großen Favoriten ist die Sbornaja ins Viertelfinale eingezogen, und diesem Bein, mit dem Akinfejew im Elfmeterschießen den entscheidenden Versuch von Iago Apsas parierte, dem huldigen sie jetzt ausführlich in Russland. Argentinien und Maradona mögen einst im Besitz der "Hand Gottes" gewesen sein, aber Russland freut sich jetzt über "ein Bein Gottes", wie die Agentur Ria titelte.

Normalerweise gehört in Russland Skepsis zur Mentalität, nicht nur, aber erst recht, wenn es um die Leistungsmöglichkeiten der eigenen Fußball-Nationalmannschaft geht. Aber es hat sich eine Stimmung übers Land und um diese Mannschaft gelegt, die nichts mehr für unmöglich hält. "Wir schaffen das!", titelte der Kommersant. Das Tableau sieht nun erst Kroatien als Gegner vor, dann wäre ein Vertreter aus dem Quartett Schweden/Schweiz/Kolumbien/England dran. Warum sollte das nicht machbar sein für jemanden, der Spanien rauswirft? Halbfinale, Finale, gar Weltmeister werden im eigenen Land?

"Ich glaube, dass das erst der Anfang ist", sagte Trainer Stanislaw Tschertschessow in seinem üblichen Brummton: "Deshalb muss ich mir meine Emotionen für die Zukunft aufsparen." Und als er sich zur Verletzung seines wichtigen Linksverteidigers Jurij Schirkow äußern sollte, da teilte er mit, dass der bei der WM wohl nicht mehr spielen könne - "außer im Finale". Tschertschessow ist ein eigenwilliger Typ, er sagt oft Sätze, bei denen nicht ganz klar ist, wie ernst er sie meint und wie viel Scherz drinsteckt. So wie er diesen Satz sagte, steckte nicht zu viel Scherz drin.

Es ist selbstverständlich eine immense Partynacht geworden im Land. In Moskau mussten sie irgendwann sogar die Uliza Nikolskaja schließen, die Fußgängerzone zwischen dem Roten Platz und der Lubjanka, die sich während der WM zur Feierzone entwickelt hat. Schon seit WM-Beginn tragen viele Menschen angeklebte Schnauzbärte, um dem Cheftrainer Tschertschessow zu huldigen, zu dessen Markenzeichen der Schnauzer schon seit Jahren zählt. Jetzt kommen auch ein paar Masken mit dem Konterfei ihres neuen Helden Igor Akinfejew hinzu, der am Sonntag erst einige spanische Chancen und dann zwei Elfmeter parierte.

Putin meldet sich kurz vor und kurz nach dem Spiel telefonisch bei Tschertschessow

Auch die Politik mischte sich kräftig ein in die Feierlichkeiten, wie sollte es anders sein. Staatspräsident Wladimir Putin war an diesem historischen Abend leider verhindert, aber laut Kreml habe er sich kurz vor und kurz nach dem Spiel telefonisch bei Tschertschessow gemeldet. In die Kabine kam dafür der Ministerpräsident Dmitrij Medwedjew, in seinem Schlepptau der umstrittene Vize-Premier und Multi-Funktionär Witalij Mutko. Jedem Einzelnen schüttelte er die Hand, "danke Jungs", sagte der Regierungschef, ein "kolossaler Sieg" sei das gewesen. Anderntags teilte dann Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow mit, in vielerlei Hinsicht könnten die Bilder der jubelnden Fans mit denen der Feiern zum Kriegsende in der Sowjetunion verglichen werden. "Aber dies ist natürlich nicht der Fall, wir sprechen nicht über die Feiern nach dem Sieg in einem Krieg - hier geht es um Sport."

Ein einziges Thema konnte die Feierlichkeiten etwas trüben, und das war ein Blick auf die bloße fußballerische Leistung der Sbornaja. Denn eigentlich hatte sie in den 120 Minuten gegen Spanien nur einen richtigen Torschuss zustande gebracht: Artjom Dsjubas Hand-Elfmeter zum 1:1 (41.) nach dem frühen Eigentor von Abwehrchef Sergej Ignaschewitsch (12.). Ansonsten machten sie nichts anderes, außer sich hinten reinzustellen, das Feld zu verstellen und dem Gegner auffällig ausdauernd hinterherzurennen.

Aber dieses spielerische Manko spielte in der Nachbetrachtung kaum eine Rolle. Letztmals stand die Sbornaja zu Zeiten der Sowjetunion im Viertelfinale, 1970 gab es ein 0:1 nach Verlängerung gegen Uruguay. Das Halbfinale hat sie erst einmal erreicht, 1966 war das, als sie mit 1:2 gegen Deutschland verlor. Und weiter ging es für sie bei einer WM noch nie.

© SZ vom 03.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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