Radsport:Frühjahrserwachen im Spätsommer

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Der Profi-Radsport versucht in den kommenden drei Monaten, eine fast ganze Saison nachzuholen - es ist ein Experiment mit vielen Risiken und Nebenwirkungen.

Von Johannes Knuth, Siena/München

Was waren das für Bilder, wie aus einer anderen Ära und doch so vertraut. Gut, die Radprofis quälten sich diesmal bei 40 Grad, nicht im kühlen Dauerregen, der bei Strade Bianche schon mal vorherrscht, weil das Eintagesrennen für gewöhnlich im Frühjahr stattfindet. Nun strampelte das Peloton im warmen Licht der Toskana, ehe die Fahrer immer wieder in den Staub der Schottersektoren rund um Siena eintauchten, auf den weißen Straßen, die dem Rennen seinen Namen spenden. Als die Fahrer wieder aus dem Staub auftauchten, waren sie paniert, als kämen sie von einer Großbaustelle. Die Fans standen dicht an dicht Spalier, jubelten und schrien, vor allem für die Italiener Davide Formolo und Alberto Bettiol. So vertraut wirkte dieses Schauspiel, als hätte es nie eine Corona-Seuche gegeben, die auch den Radsport in eine knapp fünfmonatige Pause gezwungen hatte. Bis jetzt.

Das alles konnte freilich nicht maskieren, dass der Sport am Wochenende in ein Experiment aufgebrochen war, von dem niemand weiß, ob es überhaupt gelingen kann. Der Weltverband UCI hatte zuletzt alles in seinen Notkalender für die kommenden drei Monate gepresst, was irgendwie hineinpasste: Klassiker, die großen Rundfahrten, die WM im Wallis. Strade Bianche, eine italienische Replik auf die Kopfsteinpflasterhatz von Paris - Roubaix, war nun besonders in den Fokus gerückt, weil es das erste Rennen der höchsten Radsportliga nach der Zwangspause war, ein Frühjahrserwachen im Spätsommer.

Erst mit Staub paniert, dann Dritter bei der Saisonfortsetzung: Der deutsche Meister Max Schachmann, 26, überzeugt auch bei Strade Bianche. (Foto: Fabio Ferrari/imago)

Der Wettstreit der Männer mündete dabei fast in der Pointe, dass der letzte Sieger vor der Pause, der Deutsche Max Schachmann beim Etappenrennen Paris - Nizza, auch der erste Sieger danach gewesen wäre. Aber der Belgier Wout van Aert, im Nebenjob dreimaliger Querfeldein-Weltmeister, spielte seine Geländefähigkeiten auf dem Schotter dann doch aus, mit einer Attacke 13 Kilometer vor dem Ziel, mit der er die Spitzengruppe spaltete wie ein Presslufthammer einen Felsblock. Schachmann wurde Dritter, hinter van Aert und Formolo, was er aber "sehr ordentlich" fand nach diesem "brutalen Rennen". Nur 42 von 166 gestarteten Profis rollten ins Ziel.

Brutal, dieses Etikett passt auch zum veranschlagten Rennprogramm in den kommenden Wochen. Im August stehen weitere italienische Frühjahrsklassiker wie Mailand - San Remo (8.8.) im Programm, dann das Criterium du Dauphiné (ab 12.8.) und auch schon die Tour (29.8. bis 20.9.), die mit den ersten WM-Wettbewerben in der Schweiz kollidiert. Der Giro d'Italia und die Vuelta d'Espana erstrecken sich in den Oktober bzw. November, am 25. Oktober kommt es gar zur irrwitzigen Konstellation, dass sich drei Radsport-Festspiele überschneiden: das abschließende Giro-Zeitfahren, die Bergankunft auf dem Tourmalet bei der Vuelta, dazu Paris - Roubaix. Das dürfte sogar die Aufgebote der World-Tour-Teams an ihre Grenzen treiben.

Um dabei corona-kompatibel aufzutreten, wollen die Verantwortlichen ihren Sport, der seinem Publikum ansonsten so nahekommt wie kaum ein anderes Profigewerbe, in eine Blase zwängen. Die Fahrer müssen vor jedem Rennen zwei negative Tests vorweisen; das Fahrerlager an Start und Ziel, das sonst einem Jahrmarktgewusel gleicht, wird abgeriegelt; außerhalb der Rennen gilt eine Maskenpflicht. Wie fragil dieses Konzept ist, zeigten bereits die Bilder aus Siena: Die Zieleinfahrt in der historischen Altstadt war fast leergefegt, per Dekret, an der Strecke aber fieberten die Fans schon wieder eifrig mit. Auch die Fahrer müssen bald immer wieder aus ihrer Blase auftauchen, wenn sie quer durch Europa reisen. Der Schweizer Profi Silvan Dillier wurde kurz vor seiner Anreise nach Italien positiv getestet und in Quarantäne versetzt, was aber, wenn ein Corona-Fall demnächst unmittelbar vor oder während eines Rennens vorliegt? Müsste dann auch nur der Fahrer pausieren? Das Team? Das ganze Rennen? Die UCI hat sich diesbezüglich nicht festgelegt.

Die wirtschaftlichen Folgen, die an derartigen Entscheidungen hängen, sind immens: Schon im Frühjahr hatten einige Teams Gehälter gekürzt, das polnische Textilunternehmen CCC, Sponsor der Equipe um den Deutschen Simon Geschke, kündigte an, dass es nach diesem Jahr vorzeitig aussteigen werde. Ralph Denk, der Teamchef von Schachmanns Bora-hansgrohe-Equipe, sagte zuletzt, dass sein Team bis zu 80 Prozent seines jährlichen Werbewertes bei der Frankreich-Rundfahrt generiere - einzelne Absagen könnte die Szene verkraften, die der Tour auf keinen Fall. Deren Chef Christian Prudhomme gab zu, dass man "Konzepte für mehrere Szenarien" ausgearbeitet habe. Wahrscheinlich ist, dass die Rundfahrt ihre Start- und Zielbereiche schweren Herzens sperren wird, womöglich auch den Zugang zu einzelnen Bergpässen. Abstandsregeln wären da kaum durchzusetzen.

Viele Profis begleiten dieses gewagte Unterfangen mit einer Mischung aus Freude, Furcht - und Pragmatismus. "In den Niederlanden sagen wir: Pakke wat jer pakken kann", sagte Annemiek van Vleuten, die beste Fahrerin der vergangenen Jahre, die jetzt auch die Strade Bianche der Frauen gewann. Sprich: Alles mitnehmen, was geht. Sie müsse ja davon ausgehen, so die 37-Jährige, dass jedes Rennen schon wieder das letzte sein könnte.

© SZ vom 03.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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