Radsport:Frühjahr der Belgier

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Zur Rennmitte stürzte Philippe Gilbert (rechts) schwer und zog sich einen Nierenriss zu. Am Ende des Amstel Gold Race triumpherte er dennoch vor Michal Kwiatkowski. (Foto: Yorick Jansens/dpa)

Der Wallone Philippe Gilbert und der Flame Greg van Avermaet dominieren die Klassikersaison. Vorbilder einer neuen Zeit sind sie aber nicht.

Von Johannes Aumüller, Maastricht/Frankfurt

Erst in den Stunden danach ließ sich der Verlauf von Philippe Gilberts Rennen so richtig nachvollziehen. Der Sportliche Leiter seiner Quick-Step-Mannschaft berichtete, dass der Belgier bei einem Sturz zur Rennhälfte kurzzeitig das Bewusstsein verloren habe. Und als Gilbert aufgrund der anhaltenden Schmerzen in den Abendstunden des Ostersonntages ein Krankenhaus aufsuchte, verordneten die Ärzte umgehend eine einwöchige Pause. Der Grund: ein kleiner Riss in der rechten Niere.

Das Amstel Gold Race war also ein Rad-Rennen, bei dem Gilbert kurzzeitig bewusstlos war und sich einen Nierenriss zuzog - und bei dem er trotzdem als Erster ins Ziel kam, im Sprint einer Zweiergruppe vor dem Polen Michael Kwiatkowski (Team Sky). Es war sein vierter Erfolg bei diesem Rennen, das anders als in den Vorjahren nicht auf dem berühmten Cauberg, sondern erst einige Kilometer danach endete, und es war die passende Ergänzung des bisherigen Radsport-Frühjahrs. Das endet zwar erst in dieser Woche mit dem Halb-Klassiker Flèche Wallone sowie der Ardennenfahrt Lüttich - Bastogne - Lüttich, aber schon jetzt lässt sich festhalten: Es ist das Frühjahr der Belgier. Das von Gilbert, 34, der bei der Flandern-Rundfahrt und beim Amstel-Rennen triumphierte - und das von Greg Van Avermaet, 31, der bei Paris - Roubaix, Gent - Wevelgem und dem E3 Harelbeke siegte. Und das ist aus mehreren Gründen eine bemerkenswerte Konstellation.

Kein Land verfolgt diese ganztätigen März- und April-Schlachten über Kopfsteinpflaster und giftige Hügel so intensiv wie die Belgier. Das ist bis heute so, trotz aller Dopingvorfälle der beiden vergangenen Dekaden, nicht zuletzt auch bei diversen Top-Stars aus dem eigenen Land. Gerade erst absolvierte ihr Landsmann Tom Boonen seine letzten Klassiker-Kilometer, der frühere Weltmeister, den sie in der Heimat trotz einer großen Kokain-Affäre immer noch als Helden verehren. Aber so erfolgreich wie in diesem Frühling waren Belgiens Pedaleure schon ein paar Jahre nicht mehr. Seit 2012 war die Ausbeute eher mau gewesen, aber nun kommen Gilbert und Van Avermaet daher.

Ein E-Mail-Austausch belastete Van Avermaet, trotzdem gab es einen Freispruch

Noch bis zum vergangenen Jahr waren diese beiden bei BMC Teamkollegen. Und es war kein großes Geheimnis, dass ihr Verhältnis in den fünf gemeinsamen Jahren dort tendenziell angespannt war. Der Wallone Gilbert war der etabliertere der beiden; der Fahrer, der zwar schon 2011 und 2012 Klassiker und einen WM-Titel gewonnen hatte, aber nicht mehr ans frühere Niveau heranzureichen schien. Der Flame Van Avermaet wiederum zählte für die Experten vor nahezu jedem schweren Eintagesrennen zum engen Favoritenkreis und holte auch in Rio de Janeiro Olympia-Gold, landete aber bei den Frühjahrsklassikern nie ganz vorne. Im Winter war Schluss mit der Konstellation: Van Avermaet blieb bei BMC, Gilbert ging fort zu Quick-Step, dieser traditionellen Klassiker-Equipe, wo noch immer der umstrittene Patrick Lefevere das Regiment führt. "Ich habe immer gesagt, dass ich keine großen Probleme mit Philippe habe, aber wir gleichen uns als Fahrer zu sehr", sagte Van Avermaet: "Manchmal war es einfach schwierig für mich, weil ein Finish, das gut für mich war, auch gut für ihn war, und er war der Champion und wollte natürlich gewinnen."

Gilbert wie Van Avermaet taugen jedoch nicht gerade als Vorzeigegesichter einer anderen Zeit. Beide sind zwar noch nie wegen Dopings verurteilt worden, sahen sich aber schon konkreten und schwerwiegenden Anschuldigungen ausgesetzt. 2013 behaupteten frühere Mannschaftskollegen Gilberts, dieser sei während seines Engagements bei Lotto vom Teamarzt verbotenerweise mit Kortison versorgt worden. Gilbert wies das zurück, der Arzt sagte, beim Belgier einmal Kortison angewandt zu haben - "um eine Verletzung zu behandeln".

Noch indizienreicher war die Lage bei Van Avermaet. Es kam heraus, dass er viele Jahre Patient des umstrittenen belgischen Mediziners Chris Mertens war - Branchen-Spitzname "Doktor Ozon", weil er an vielen Athleten eine verbotene Therapie durchgeführt haben soll, bei der dem Blut ein spezielles Ozon-Gemisch zugeführt wird. Bei Van Avermaet ging es um einen unerlaubten Umgang mit den Mitteln Diprophos und Vaminolact.

Der Verdacht stützte sich vor allem auf einen Mail-Austausch zwischen Van Avermaet und Mertens aus den Jahren 2009 bis 2012. "Der Tonfall der Mails zeigt die typische Grundhaltung zu leistungssteigernden Mitteln, die zu dieser Zeit vorherrschte", sagte Jaak Fransen, der Anti-Doping-Beauftragte der belgischen Radsport-Föderation. Van Avermaet bestritt Fehlverhalten, Fransens Gremium forderte im Frühjahr 2015 eine Zwei-Jahres-Sperre sowie eine Geldstrafe von zirka 260 000 Euro. Die Disziplinarkommission des Verbandes entschied trotzdem auf Freispruch. Und so war der Weg für Van Avermaets erfolgreichste Karrierephase frei.

© SZ vom 18.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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