Prothesen-Weitspringer Rehm:Goldmedaille im Laborversuch

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"Ich sehe die Prothese nicht als Vorteil": Markus Rehm. (Foto: dpa)

Vorteil durch Karbon? Der Sieg des Unterschenkel-Amputierten Markus Rehm im Weitsprung der Deutschen Meisterschaft bringt die Branche in Bedrängnis. Nun soll die Wissenschaft schnell klären, ob er auch bei der EM starten darf.

Von Thomas Hahn, Ulm

Markus Rehm sitzt auf dem Podium im Pressezelt wie ein höflicher Gast, der niemanden überfordern mag mit seinem Glück. Er schaut in ein Plenum voller Fragezeichen. Er weiß, dass die Leute, die jetzt auf ihn schauen, sich nicht einfach mit ihm freuen können, als wäre er irgendein beliebiger Gewinner. Er, der Paralympics-Sieger und Prothesen-Sportler Rehm, ist gerade deutscher Weitsprung-Meister der olympischen Klasse geworden mit paralympischem Weltrekord von 8,24 Meter. Das ist hart für die Leute, das versteht er. Wie sollen die Zweibeinigen das so einfach verstehen können, dass der Einbeinige unter ihnen auf einmal König ist?

Rehm erklärt. Er beruhigt. Er entschuldigt sich sogar

Eine Unsicherheit steht im Raum, über die Markus Rehm nicht einfach hinweggehen mag, und deshalb antwortet er mit großer Geduld auch auf jene hingestotterten Fragen, die gut gemeint sind, aber irgendwie auch ein bisschen ehrabschneidend klingen. Er erklärt, er beruhigt. Er entschuldigt sich sogar, als ihm jemand seine zurückgenommene Art vorhält. Markus Rehm sagt: "Wenn ich nicht super-überrascht geklungen habe, tut mir das leid."

Markus Rehm, 25, Leichtathlet von Bayer Leverkusen, im wirklichen Leben Orthopädietechniker, hat schon Schlimmeres überstanden in seinem Leben als diesen unerhörten Erfolg am Samstag bei den Titelkämpfen im Ulmer Donaustadion. Mit 14 ist er beim Wakeboarden von einem Motorboot überfahren worden. Er hat dabei seinen rechten Unterschenkel verloren. Was das genau bedeutet, lässt sich in den wenigen Zeilen eines Zeitungsartikels nicht angemessen beschreiben. Es ist ein vielschichtiger Kampf, sich damit abfinden zu müssen, dass ein ganzes Körperteil für immer weg ist. Wahrscheinlich kann Markus Rehm die ganze Debatte um sein Karbonfuß-Weitspringen auch deshalb mit so viel Gleichmut führen, weil er weiß, was eine echte Krise ist.

Trotzdem ist dieser windige Samstag in Ulm auch für ihn eine Strapaze gewesen. Der vorläufige Höhepunkt seiner Sportlerkarriere mit Titel und Rekord und Sportstudio-Besuch ist eben kein beliebiges Jubelereignis gewesen für die Gesellschaft drumherum. Er hat eine Debatte auf die Spitze getrieben, welche der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) zu leichtfertig vor sich hergeschoben hat. Die das Konzept der Inklusion auf die Probe stellt und die große Frage aufwirft, ob die Leistung, die einer mit einem künstlichen Körperteil erzielt, zu vergleichen ist mit einer Leistung, bei welcher der Sportler nur auf natürliche Gliedmaßen zurückgreifen kann.

Eine seltsame Ironie wohnt der Diskussion inne. Viele vermuten, Rehm habe durch seine Prothese einen Vorteil, weil sie andere biomechanische Energieflüsse zulasse, als wenn sein rechtes Absprungbein noch ganz wäre. Der Mensch mit Behinderung, den viele Gesellschaften immer noch als minderwertig wahrnehmen, steht auf einmal da als überlegenes Geschöpf.

Die Stimmung nach Rehms Erfolg ist jedenfalls speziell gewesen. Sie war einerseits geprägt vom Respekt vor dem Athleten und Lebenskünstler Rehm. DLV-Präsident Clemens Prokop zum Beispiel würdigte Rehm als "fantastischen Sportsmann" und hob seine "Leuchtturmfunktion" für Menschen mit Behinderung hervor. Und auch Christian Reif, der Europameister von 2010, keifte nicht rum, bloß weil er mit seiner selten guten Serie von sechs Acht-Meter-Sprüngen und einer Tagesbestweite von 8,20 hinter dem Prothesen-Mann Zweiter wurde.

Reif war eher beeindruckt, wie der amputierte Kollege dem Druck der Aufmerksamkeit standhielt: "Es ist nicht ganz einfach, sich vor 10 000 Zuschauern hinzustellen und zu sagen: ,Ich mache da mit.' Es hätte ja auch schiefgehen können."

Andererseits hat man auch die Bedenken herausgehört und die Verunsicherung. Der Hallen-Europarekordler Sebastian Bayer sagte erst ein paar Mal "kein Kommentar", ehe er doch einen abgab. Er sei kein Wissenschaftler, sagte Bayer, trotzdem glaubt er nicht dran, dass Prothesenweitsprung und Weitsprung vergleichbar sind: "Gefühlt ist sein Prothesenbein 15 Zentimeter länger als das andere Bein." Weitsprung-Bundestrainer Uwe Florczak gratulierte Rehm zu den 8,24 Metern, aber sagte auch: "Die Anlaufgeschwindigkeit war mit Sicherheit nicht so hoch, wie wir sie eigentlich bei solchen Sprüngen kennen." Sprich: Die Katapultwirkung des Karbonfußes trug zur Meisterleistung bei. Und die Weiterungen der Rehmschen Leistung könnten die Leichtathletik auf Europa-Ebene in ein kleines Chaos stürzen.

Der DLV dachte mal, er könne dem Problem vorbeugen, indem er Leute wie Rehm bei seinen Meisterschaften teilnehmen lässt, aber ihre Ergebnisse nicht wertet. Zum 1. Januar 2013 nahm der DLV eine entsprechende Präzisierung der internationalen Regeln vor, die im Wettkampf künstliches Hilfsmaterial verbieten. Das kam vor allem beim Deutschen Behindertensport-Verband (DBS) schlecht an. Der DLV strich die Präzisierung wieder, womit aber immer noch nicht gesagt war, dass Rehm an den deutschen Meisterschaften teilnehmen durfte.

Erst vor vier Wochen, fast ein Jahr nachdem Rehm bei der paralympischen WM in Lyon seinen Weltrekord auf 7,95 Meter verbessert hatte, kam das Okay. DLV, DBS und Internationales Paralympisches Komitee hatten sich zuvor darauf geeinigt, eine Studie zum Weitsprung mit Prothese zu veranlassen. Solange eine solche Studie nicht zeigt, dass Rehm mit seiner Prothese effektiver springt als nicht-behinderte Weitspringer, darf er starten.

Unter Vorbehalt ist Markus Rehm also deutscher Meister geworden. Unter Vorbehalt hat er die EM-Norm von 8,05 Meter übertroffen, was dazu führen müsste, dass der DLV Rehm auch für die EM vom 12. bis 17. August in Zürich nominiert. Und wenn sich der Europa-Verband EAA dann nicht über die DLV-Regeln stellt, könnte es in Zürich wiederum sein, dass Markus Rehm unter Vorbehalt Europameister wird. So richtig lustig wäre das für niemanden. DLV-Bundestrainer Florczak gibt zu: "Wir haben mit Sicherheit hier geschlafen." Rehms Trainerin Steffi Nerius, die frühere Speerwurf-Weltmeisterin, formuliert es etwas höflicher: "Man hätte die Zeit gehabt, um etwas weiter zu sein, als man jetzt ist."

Der Weitsprungwettkampf von Ulm war auch eine Art Laborversuch, um den Biomechanikern die Chance zu geben, vergleichbare Daten von Rehm, Reif und den anderen zu sammeln. Wenn die Wissenschaftler schnell sind, könnten sie schon vor der EM-Nominierung, die an diesem Montag entschieden und am Mittwoch veröffentlicht werden soll, zu dem Ergebnis kommen, dass die Unterschiede zwischen Prothesen-Weitspringer und Weitspringer zu krass sind. Dann würde Rehm nicht nominiert.

Eine Karbonfeder ist kein Siebenmeilen-Stiefel

Aber am Sonntagabend stehen da noch diese 8,24 Meter in der Ergebnisliste. Und Markus Rehm muss den Umstand verwalten, dass keiner wirklich weiß, was diese Meisterleistung im olympischen Umfeld wert ist. Notdürftig korrigiert Rehm Klischees und Fehlinformationen wie jene, dass sein Prothesenbein 15 Zentimeter länger sei als sein anderes Bein; es ist nur "drei, vier Zentimeter" länger, um einen harmonischen Anlauf zu gewährleisten, wie er sagt. Geduldig versucht er, den Leuten klar zu machen, dass eine Karbon-Feder kein Sieben-Meilen-Stiefel ist und seine weiten Sprünge auch mit Talent sowie mit dem halbprofessionellen Training zu tun haben, dem er sich hingibt.

"Ich sehe die Prothese nicht als Hilfsmittel", sagt Markus Rehm, "sie ist mein Ersatz. Ich ersetze das, was mir fehlt, und das möglichst gut." Er muss seine Freude am Rekord aufrechnen mit den Bedenken der anderen. Er findet das "schade", aber er tut es mit Anstand und großer Tapferkeit. Und im Grunde muss er hoffen, dass die Wissenschaft ihn irgendwann von allen Zweifeln befreit, was auch immer das dann für seine olympische Karriere bedeutet.

© SZ vom 28.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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