Premier League:Zeit für Zocker

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Der glückliche Sieg des FC Liverpool in allerletzter Minute gegen Tottenham Hotspur zeigt, dass es im Meisterschafts-Duell mit Manchester City um den Titel auf Details ankommt - wie eben entscheidende Tore in der Nachspielzeit.

Von Sven Haist, Liverpool

Der Siegtreffer für den FC Liverpool erwischte Jürgen Klopp unerwartet. Entgegen seiner Angewohnheit, nach wegweisenden Toren seines Teams alles stehen und liegen zu lassen, um im heimischen Stadion eine Runde feiern zu gehen, hielt sich der Trainer im allgemeinen Freudentaumel zurück. Fast statisch beobachtete Klopp die jubelnden Fans auf der Haupttribüne, als könne er kaum glauben, dass das Tor tatsächlich gefallen war. Das erleichterte Innehalten über den spielentscheidenden Treffer im Duell mit Tottenham Hotspur deutete an, wie viel Dusel die Reds am Sonntag hatten.

Ein dubioses Eigentor durch Tottenhams Toby Alderweireld gab Liverpool mit dem 2:1 in der letzten Spielminute das zwischenzeitlich verloren gegangene Gefühl zurück, in der Meisterschaft den großen Coup landen zu können. Den siegbringenden Hinweis hatte Peter Krawietz Liverpools bestem Angreifer Mohamed Salah gegeben: Mit seiner Hand malte Klopps langjähriger Assistent mehrmals einen Halbkreis in die Luft, wonach sich der Torjäger aus der Mitte an den ballentfernten Pfosten bewegen sollte, um von dort aus unbemerkt ins Zentrum laufen zu können.

Nach einer Flanke kam Salah, der zuletzt am 9. Februar getroffen hat, tatsächlich in besagter Position zum Kopfball. Bei seiner Parade ließ Frankreichs Weltmeistertorwart Hugo Lloris den Ball auf die Füße seines Mitspielers fallen. Aus kurzer Distanz konnte Alderweireld nicht ausweichen, er stolperte den Ball ins Tor (90.). "Ich habe den Jungs gesagt, dass es 500 000 Wege gibt, ein Spiel zu gewinnen. Das heute war tendenziell ein schmutziger Erfolg", sagte Klopp. Ganz frei von Glück könne man nicht in der Position sein, in der sich Liverpool befindet.

Der Emotionsausbruch der Zuschauer in Anfield war gewaltig. Beim übertragenden Fernsehsender Sky Sports verlor Jamie Carragher, einst Vorzeige-Verteidiger der Reds, beim Kommentieren die Beherrschung und schrie wie ein Fan ins Mikrofon: "Salah, du kleiner Tänzer!" In der Historie der Premier League kommt kein Verein an die 33 Tore heran, die Liverpool in der 90. Minute und der Nachspielzeit erzielt hat. Und bloß der FC Chelsea schlägt mit 86 Heimspielen ohne Niederlage zwischen 2004 und 2008 die Bilanz der Reds, die nun 37 Ligapartien zu Hause nicht verloren haben.

Liverpool benötigt dringend noch mal die Hilfe der Spurs

Mit dem Erfolg über die drittplatzierten Spurs hat sich Liverpool im Titelrennen mit Manchester City in Stellung gebracht für die verbleibenden sechs Spieltage in der Premier League. Um zwei Zähler befinden sich die Reds als Tabellenführer jetzt vor City, wobei der Meister sich am Mittwoch im Nachholspiel gegen Cardiff City den ersten Platz zurückholen kann. Seit fünf Jahren liegen erstmals zwei Vereine an der Spitze der Premier League zu diesem Zeitpunkt so dicht beieinander. Damals war Liverpool im Vorteil, verspielte diesen jedoch drei Spieltage vor Schluss an City. Jetzt versuchen die leidgeprüften Liverpooler den Gegenangriff, nachdem sie seit Jahresbeginn ein zwischenzeitliches Polster von sieben Punkten vertändelt haben. Lloris' Fehlgriff erinnerte an ein Missgeschick von Englands Nationaltorwart Jordan Pickford im Dezember, der für den FC Everton ebenfalls den Ball zum Siegtreffer für Liverpool auflegte. Im Gegensatz zu den damaligen Jubelarien verzichtete Liverpool diesmal auf Schadenfreude.

Die Spurs sind sowieso geplagt genug: Durch das fünfte sieglose Spiel nacheinander haben sie den zwischenzeitlichen Vorsprung von zehn Punkten auf einen nicht zur Champions League berechtigenden Platz vollständig eingebüßt. Klopp suchte den Weg zu den Verlierern, die er vorab mit Lob versehen hatte. Denn Liverpool benötigt dringend noch mal die Hilfe der Spurs: bei deren Ligaspiel gegen City. Ohne Ausrutscher des aktuellen Meisters kann Liverpool selbst nicht Meister werden.

Wenn der Herzenswunsch nach dem ersten Ligatitel seit 29 Jahren möglichst lange realisierbar bleiben soll, helfen einzig Siege. Der Ernst der Lage wurde offenkundig, als Liverpool am Ende der Partie all in ging. Nach einem Ballverlust am gegnerischen Strafraum wurde das Team ausgekontert. Zu zweit lief Tottenham auf Liverpools einzigen in der Defensive verbliebenen Abwehrspieler Virgil van Dijk zu, der ebenfalls zockte - und gewann. Van Dijk zwang Tottenhams Moussa Sissoko zum Torabschluss, der dann zu hoch geriet. Wenn dieser Ball ins Tor gegangen wäre, sagte Klopp später auf der Pressekonferenz, "hätte ich bezweifelt, dass wir gewinnen". Und damit wäre die Meisterschaft wohl so gut wie verloren gewesen.

In der ersten Halbzeit verpasste es Liverpool, dem Kopfballtreffer durch Roberto Firmino (16.) ein weiteres Tor folgen zu lassen. Und mit einer Änderung der Grundformation brachte Mauricio Pochettino, der wegen Schiedsrichterkritik die Spurs von der Tribüne aus coachen musste, seinen Kontrahenten in Verlegenheit. Minutenlang beratschlagte sich Klopp mit seinen Assistenten über eine Gegenreaktion, Kapitän Jordan Henderson verschlief einen schnell ausgeführten Freistoß, der Lucas Moura für Tottenham den Ausgleich ermöglichte (70.). Als Liverpool in seiner Verzweiflung nicht mehr in der Lage zu sein schien, die Spurs zu bezwingen, besiegten die sich selbst.

© SZ vom 02.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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